Zukunft der Bibliotheken: Das Beispiel Saarbrücken Das Wohnzimmer, der neue Heilige Gral

Saarbrücken · Kommunale Bibliotheken müssen sich künftig mehr als Sozialorte denn als Medienausleihestellen begreifen. Der neue Leiter der Saarbrücker Stadtbibliothek, der größten im Saarland, hat Ideen, wie das gehen könnte.

 Aufenthaltsqualität wird immer wichtiger: Blick in die Kinderlesezone der Saarbrücker Stadtbibliothek.

Aufenthaltsqualität wird immer wichtiger: Blick in die Kinderlesezone der Saarbrücker Stadtbibliothek.

Foto: Iris Maria Maurer

Auf dem Sideboard in seinem Arbeitszimmer steht neben einem Buddha Stéphane Hessels „Empört Euch!“ – ein 2010 erschienenes Pamphlet, in dem der damals 93-jährige Ex-Résistancekämpfer Hessel an unsere Selbstverantwortung appellierte und zum Widerstand gegen den Finanzkapitalismus aufrief. So plakativ, wie Gerald Schleiwies, seit fünf Monaten in Saarbrücken Leiter der größten der elf kommunalen Bibliotheken des Saarlandes, Hessels vielgelesenen Weckruf in Sichthöhe aufgestellt hat, muss damit ein Bekenntnis verbunden sein. Ist es auch.

„Stellt Euch und die Dinge um Euch ruhig mal infrage“ (Schleiwies) versuche er hier in Saarbrücken zu vermitteln. Was gestern gültig war, muss das heute nicht mehr sein. Womit wir beim Thema wären: Müssen sich Bibliotheken neu erfinden, um auch übermorgen noch zu existieren? Bei Schleiwies stößt man mit so einer Frage gewissermaßen in ein Wespennest. Bibliotheken seien heute „nicht mehr nur eine Medienausleihstelle“, sagt er und sprudelt los. Ausleih­zahlen seien lange in Saarbrücken wie andernorts „der Heilige Gral“ gewesen. Solange es damit aufwärts ging. Seit die Zahl der Bibliotheksnutzer zurückgeht, muss das System „öffentliche Bücherei“ neu gedacht werden.

Um die Krise zu kaschieren, blenden Bibliotheken gerne mit der absoluten Zahl jährlich entliehener Medien (Bücher, DVDs, CDs). In der Saarbrücker Stadtbibliothek waren das zuletzt rund 450 000 Medien. Wow! Die Zahlen täuschen. Es spricht für Schleiwies, dass er im Gespräch eine nennt, die sehr viel aufschlussreicher ist: In Saarbrücken habe man derzeit rund 5100 zahlende Nutzer (solche mit Mitgliedsausweis, die den Jahresbeitrag von 20 Euro entrichten). Was allerdings, Schleiwies’ Unverblümtheit ist nicht absichtslos, eben im Umkehrschluss nicht heißt, dass nicht mehr Leute die größte kommunale Bücherei hierzulande aufsuchen. Immer mehr Menschen nutzten die Stadtbibliothek – ohne, statistisch betrachtet, dabei Ausleihspuren zu hinterlassen – als Lern-, als  Lese- oder auch ganz profan als technischen Service-Ort. „Die Leute fragen etwa nicht mehr nach guten Krimis, sondern wie sie ihr Foto passend in ihre Bewerbung bekommen“, erzählt Schleiwies. Und kommt auf sein Lieblingsthema: die Bibliothek als sozialen Ort nach skandinavischem oder holländischem Vorbild.

Schleiwies war vor Saarbrücken fünf Jahre lang Leiter der Stadtbibliothek von Salzgitter und blickte sich gerne in norwegischen oder finnischen Bibliotheken um, wo die Zukunft seiner Zunft längst begonnen hat. Vielerorts praktiziert man dort das Modell „Open Library“ und öffnet täglich von 7 bis 22 Uhr. Nur in den Stoßzeiten sei auch Fachpersonal da, in den Randzeiten genüge ein Wachmann, weiß Schleiwies. Dafür könne man in der Früh dort Zeitung lesen oder abends noch einen der Multimedia-Arbeitsplätze buchen. In Stuttgart oder Ludwigshafen, das gerade für zehn Millionen seine Stadtbibliothek komplett saniert und zum öffentlichen Wohnzimmer gemacht hat, ist das Modell des Nordens erfolgreich kopiert worden – inklusive Gaming-Rooms, Medienwerkstätten, Rechercheschulungen für Schüler.

In diese Richtung will auch Schleiwies gehen. Demnächst will er „Spiel­abende“ in der Bücherei anbieten und neben dem „Stille-Raum“ im 3. Obergeschoss einen „Gaming-Place“ mit Spiele-Konsolen. „Natürlich keine Egoshooter-Spiele“, schiebt er nach. Nach dem Modell des 14-tägig in Kooperation mit dem „Netzwerk Ankommen“ für Flüchtlinge im Lesesaal erprobten „Café Biblio“ möchte er die Bibliothek für alle Bevölkerungsgruppen, ob Kinder, Senioren oder Arme, zu einem offenen Haus im Herzen der Stadt machen. Schon zu Zeiten der Volksbibliotheken der 1920er-Jahre, deren Rolle im Kontext ehrenamtlich geführter Büchereien Thema seiner nicht abgeschlossenen Promotion war, seien Leute „auch in Bibliotheken gekommen, um sich dort aufzuwärmen“.

Warum nicht auch heute? Als er unlängst im Saarbrücker Kulturausschuss diese und andere Ideen als Versuchsballon hochgehen ließ, sei die Lokalpolitik nicht verschreckt, sondern durchaus aufgeschlossen gewesen, erzählt der 44-Jährige. Schwieriger sei es manchmal, alteingesessene Bibliothekare davon zu überzeugen, dass der weitere, beharrliche Aufbau des Medienbestandes heute nicht mehr oberste Priorität habe. „Weil der Bestand schlichtweg immer weniger nachgefragt wird“, sagt Schleiwies lapidar. Seinem aus Stéphane Hessels Buch abgeleiteten Credo folgend: „Stellt Euch und die Dinge um Euch ruhig mal infrage.“

 Neue Besen kehren gut: Gerald Schleiwies, Leiter der Saarbrücker Stadtbibliothek.

Neue Besen kehren gut: Gerald Schleiwies, Leiter der Saarbrücker Stadtbibliothek.

Foto: Martin Rolshausen

Dabei ist der neue Mann Büchermensch durch und durch. Weil er also trotz spärlichen Anschaffungsetats auch künftig ein attraktives Medienrepertoire vorhalten will, überlegt er etwa, welche Bücher man nicht zwingend folieren muss  – um die Einsparungen (2,30 Euro kostet das Folieren pro Buch) dem Medienetat zuzuschlagen. Das zeigt, dass Schleiwies bei allem Neuerungswillen nicht umhin kommt, ob des nicht eben üppigen Etats die Mühen der Saarbrücker Ebene zu durchlaufen. Einerseits denkt er gerne laut über Akustikmöbel nach im Sinne des in deutschen Bibliotheken mehr und mehr verbreiteten „Design Thinking“ (mit dem Ziel, ein dezidiert vom Nutzer her denkendes, zeitgemäßes Bibliotheksambiente zu schaffen). Andererseits werden die großen Sprünge, die der neue Besen gedanklich vollführt, von den üblichen Sparauflagen abgebremst und in kleine Schritte portioniert. Wie sagt er selbst? Um möglichst kostengünstig mehr Aufenthaltsqualität und Arbeitsräume zu gewinnen, gehe „ich lieber dreimal durchs Haus, ehe ich nach mehr Räumen oder Geld schreie“.

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