Neue Bücher Weltstreunerei als Wille und Vorstellung

Saarbrücken · Neue Berichte von der geographischen Avantgardefront: Alastair Bonnetts famoses Buch „Die allerseltsamsten Orte der Welt“

Um erst gar keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die wenigsten der „allerseltsamsten Orte der Welt“ in Alastair Bonnetts gleichnamigem neuen Buch lassen sich leichthin besuchen – manche sind auch längst verschwunden.Etwa das in der Nordsee vor dem heutigen Großbritannien gelegene, vor Jahrtausenden überflutete „Doggerland“. Andere existieren nur im Netz als „Cybertopia“ oder taten dies nur für eine kurze, ziemlich bierlaunige Zeit – beispielsweise die aus einer Art anarchischem Protest gegen das Brexit-Ergebnis in der Stratfordstreet von Newcastle upon Tyne (nicht ganz zufällig auch der Wohnort des Buchautors) gegründete sogenannte separatistische „Republik Stratford“.

Und doch verbindet eines all diese Un-Orte (ob untergehende Inseln, de-facto-Staaten ohne Land wie der Malteser Orden in Rom oder Jacques Cousteaus einstige Unterwasserstation Conshelf für Ozeanauten vor Marseille) oder Gespenster-Orte (ob der verwilderte britische Friedhof in der Himalayastadt Shimla oder das unergründliche Tunnelsystem des Tokioter Bahnhofs Shinjuku): Alle bergen sie wichtige zivilisatorische Botschaften in sich, die es zu ent­schlüsseln gilt. Hat man dabei einen ethnologisch derart versierten Spurendeuter wie Bonnett zur Seite, ist diese Art randständiger Weltstreunerei das reinste Vergnügen.

Es ist dies also kein Reisebuch im landläufigen Sinne, wohl aber ein zu allerlei Denkreisen anstiftendes Buch, das nahtlos anknüpft an Alastair Bonnetts erste, ebenso hinreißende Spurensuche – sie erschien 2015 unter dem Titel „Die seltsamsten Orte der Welt“. Hier wie dort trieb Bonnett dasselbe an: Er fahndet nach dem Geist dieser Orte – ihrer Signatur, ihren verborgenen Echos, ihrer Seele, ihrer totemistischen Kraft. Der in Newcastle Sozialgeographie Lehrende hat sich, das macht seinen Ansatz so ergiebig und erfrischend, nicht nur eine kindliche Neugier erhalten, er wühlt sich in die stets kuriose Geschichte seiner porträtierten Orte dazu auch regelrecht ein.

Ob er nun die Effizienz der „Zabbalin“, der Müllsammler bei der Abfallverwertung in der koptischen Enklave Kairos („Die Müllstadt in Kairo“), beschreibt; ob er das brasilianische São Paulo als Beispiel für eine der am Boden aus allen Nähten platzenden, modernen „Helikopterstädte“ anführt, die einer Reichen-Utopie gleicht, insoweit Vermögende dort Hubschrauber als Autoersatz einsetzen oder ob er Hongkong als Inbegriff einer vertikal geordneten Stadt beschreibt, die angeblich über mehr als 60 000 Aufzüge und das „weltweit längste überdachte Laufbandsystem im Freien verfügt“: Immer streift Bonnett dabei auch ökologische Schattenseiten sowie anthropologische Folgen zukunftsweisender Ausprägungen von Urbanität.

Was seine Exkursionen auszeichnet, ist Bonnetts untrügliches Gespür dafür, weder in Reiseführern noch teils in handelsüblichen Landkarten überhaupt verzeichnete, skurrile Orte zu entdecken. In Sydney etwa widmet er sich einer Enklave strenggläubiger Juden am Bondi Beach, die man wohl am wenigsten an diesem von Scharen durchtrainierter Sportskanonen bevölkerten Stadtstrand vermutete. Als Bonnett Wind davon bekommt, beginnt er sich mit der Geschichte solcher Eruvim, äußerlich nicht als solcher erkennbarer religiöser Enklaven, zu beschäftigen und holt in Kenntnis ihrer rabbinischen Traditionen zu einer gedanklichen Meditation über die Frage aus, inwieweit es selbst an solchen touristischen Hotspots heutzutage noch „durchsichtige Mauern“ gibt, die „physisch, aber nicht religiös durchlässig“ sind.

Zu den irresten Geschichten des Bandes gehört im Kapitel „Enklaven und unsichere Nationen“ die über einen 2200 Kilometer langen, von 1980 bis 1987 von der marokkanischen Armee errichteten Sandwall in der West-Sahara, der heute in gleißender Hitze von 90 000 Soldaten (!) bewacht wird und in dessen Umgebung sieben Millionen Landminen vergraben sein sollen. Er trennt den weitgehend unbesiedelten Hinterhof Marokkos von der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS). Andererseits finden sich auch in Bonnetts näherer Umgebung ausreichend Lebensruinen, in denen, den Sahara-Sandwällen gleich, Zeit abgelagert wird. In den South Wales Valleys inspiziert Bonnett ein verfallenes Jugendferienlager („Boy’s Village“) und in seiner Heimatstadt Newcastle nimmt er am Beispiel zahlloser dort heute ins Nichts führender Fußgängerbrücken die trügerischen Verheißungen utopischer Stadtplanungen der 60er und 70er Jahre auseinander. In einem zweiten, unorthodoxen Porträt seiner Heimatstadt widmet sich Bonnett zunächst dem Phänomen städtischer „Dornenlandschaften“, die im Dienst der Maßregelung dazu dienten, „Fußgänger zu lenken und Eckensteher und Skateboarder zu vergraulen“, um dann bei einer Typologie städtischer Verbotsräume zu landen.

Ein Spurensucher wie Bonnett ist naturgemäß auch ein Liebhaber von Kartenmaterial und Google Earth. Beiden Sujets widmet er im neuen Band eigene Texte: „Trap Streets“ erklärt die untergemogelten gezielten Fehler in heutigen Karten, mit denen deren Urheber mögliche Copyrightverletzungen feststellen können. Tauchen diese erfundenen Straßen in Fremdkarten wieder auf, lassen sie sich bequem als Raubkopien ausmachen. „Jenseits von Street View“ wiederum thematisiert die gezielten Unschärfen bei Google Street View, wo sowohl kalifornische Villengegenden als auch etwa die Slums von Colombo oder Nairobi eine terra incognita bleiben. Letzteres nicht zuletzt deshalb, weil Karten vor Gericht als Beweismittel dienen könnten, um Räumungen von Slums zu stoppen. Nur einer von vielen beiläufigen Hinweisen Bonnetts in diesem (wenn auch nicht in allen 39 Texten gleichermaßen ergiebigem) Buch, die uns im Grunde mehr über den tatsächlichen Zustand der Welt sagen als viele sogenannte Schlagzeilen.

Alastair Bonnett: Die allerseltsamsten Orte der Welt. Aufsteigende Inseln, bodenlose Städte, abseitige Paradiese. A.d. Engl. von Andreas Wirthensohn. C.H. Beck, 268 Seiten, 19,95 €.

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