Neues Jugendstück des Theaters Übezwerg Nie mehr Verdrängungsweltmeister sein

Saarbrücken · Lasst Euch ruhig mal den Kopf waschen! – Das sehenswerte neue Jugendstück der Saarbrücker Überzwerge geht uns alle an.

  Vier, die fremdes Leid endlich an sich „heranlassen“ wollen: Szene mit Sabine Merziger, Eva Coenen, Reinhold Rolser und Nicolas Bertholet (v.l.  ).

Vier, die fremdes Leid endlich an sich „heranlassen“ wollen: Szene mit Sabine Merziger, Eva Coenen, Reinhold Rolser und Nicolas Bertholet (v.l. ).

Foto: Uwe Bellhäuser/Theater Überzwerg/Uwe Bellhaeuser

Gegen Ende fällt der Schlüsselsatz des Stücks: „Es gibt ein Menschenrecht auf Verdrängung“ sagt einer der Vier, die uns auf der Überzwerg-Bühne eine Stunde lang vor Augen führen, weshalb uns das Elend in der Welt entweder egal ist oder wir glauben, nichts daran ändern zu können – was letztlich aufs Gleiche hinausläuft: Lethargie, Gleichgültigkeit oder eben Verdrängung.

Gerhard Meisters Stück „In meinem Hals steckt eine Weltkugel“ zeigt einmal mehr die Qualitäten des Saarbrücker Kinder- und Jugendthea­ters. So unangenehm im besten Sinne, wie dieses uns aus guten Gründen den Kopf waschende Stück am Mittwochabend in Bob Ziegenbalgs ganz auf den Text setzender Regie auf die Bühne kam. Die beherzten Überzwerge – in dem Fall die exzellenten Darsteller Nicolas Bertholet, Eva Coenen, Sabine Merziger und Reinhold Rolser –  zwingen uns als Zuschauer, Farbe zu bekennen. Meisters Stück führt uns unsere saturierte Behaglichkeit im Angesicht der grassierenden Armut und Ungerechtigkeit weltweit ziemlich schonungslos vor Augen. Weshalb man sich denn auch nur wünschen kann, dass viele Schulklassen – das Stück richtet sich an die Klassenstufen 9 bis 13 – den Weg nach St. Arnual finden werden.

Wie leicht könnte ein solches Stück, das den kapitalistischen Ur-Konflikt zwischen Arm und Reich, zwischen Erster und Dritter Welt einmal mehr auf die Bühne bringt, in die Hose gehen. Würde es etwa nur den üblichen moralischen Zeigefinger heben und damit auf unsere Tränendrüsen drücken. Zwar kommt Meisters Textvorlage nicht ohne den ein oder anderen Holzhammer aus und macht es sich mit seiner politischen Systemanalyse auch ein bisschen zu leicht: Unterm Strich aber bleibt die titelgebende „Weltkugel“ uns immer noch fest genug im Hals stecken – gut so!

Während das Publikum im Foyer noch auf den Einlass zur Premiere wartet, hebt das Stück schon an – ein Regiekniff, der uns gleich auf eine Ebene mit den sich unter uns mischenden Stückfiguren zwingt. Jede Distanz wird damit abgeschnitten. Also steht Reinhold Rolser dort mit seinem Handy mitten unter uns und steckt das Terrain ab: Ob uns klar sei, dass wir durch das halbe Gramm Coltan, das in jeder unserer Kommunikationsheiligkeiten steckt, indirekt involviert seien in jenen Rohstoffkrieg, der im Kongo geführt werde. „Das ist das größte Morden und Abschlachten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs“, meint er. Und beruhigt sich und uns mit der üblichen Reinwaschungsrhetorik: „Muss ich wissen, woher dieses Coltan stammt und unter welchen Bedingungen es abgebaut wird? Muss ich mich um so was kümmern?“ Soll man deshalb etwa sein Handy wegwerfen oder was? Natürlich nicht. Aber vielleicht, ließe sich folgern, muss ja nicht jedes Jahr das nächste her.

Nach diesem Prinzip des Aushebelns bewährter Selbstentschuldigungsrituale à la „Warum soll ausgerechnet ich mir die Rettung der Welt auf die Schultern laden?“ wird uns in der folgenden Stunde Stück um Stück unsere nicht von der Hand zuweisende klitzekleine Verflechtung in die heutige Weltordnung vorgeführt. Immerhin müssen wir dazu nicht die ganze Zeit im Foyer stehenbleiben – wir stehen aber auch drinnen quasi mit auf der Bühne. Weil überdeutlich wird, dass die dort mit sich und dem Weltleid ringenden Vier Stellvertreter sind. Leute wie du und ich – mal euphorisiert von der Möglichkeit, sich durch Spenden oder Patentschaften vorbildlich reinzuwaschen (hab mein Soll erfüllt!), mal geplagt von ihrem schlechten Gewissen. Und dann wieder dessen so müde, dass sie sich entweder in Zynismus oder in Schuldumkehr flüchten: Als es uns hier nach dem Krieg mies ging, haben wir uns auch selbst geholfen!

Die Regie schenkt sich jedes Bühnenbild, baut aber ein paar Videoprojektionen ein – etwa das passende ARD-Intro zu einer simulierten „Tagesschau“-Ausgabe (mit Sabine Merziger als kongenialer Nachrichtensprecherin und Reinhold Roser als aus der Rolle fallendem Korrespondenten), in der das alltägliche Sterben in Nicht-Europa zur Spitzenmeldung wird. Eva Coenen und Nicolas Bertholet reichen die Desilussionierung flugs nach: Solch eine „Tagesschau“ wäre „keine Maßnahme zur Abschaffung des Welthungers“ (Coenen). „Es wäre eine zur Abschaffung des Fernsehens.“  (Bertholet)

Zuletzt nimmt Meisters Stück das „An-die-Nieren-gehen“ allzu wörtlich, um (als Krönung eines pervertierten Kapitalismus) gleich noch das Thema Organhandel zu streifen: Einer der Vier kauft sich, um nicht ein Leben lang an der Dialyse zu hängen, in Indien eine neue Niere. Und passiert mit seiner indischen Niere „problemlos den Zoll“. Er fliegt zurück in eine Festung namens Europa. Schluss. Aus. Großer Applaus. Zurück bleibt die Frage, ob wir nicht wenigstens „die Festung in unserem Kopf“ schleifen sollten?

Nächste Vorstellungen: 24. November (19.30 Uhr); 17. und 18. Januar (jeweils 10 Uhr); 19. Januar (19.30 Uhr) und 27. Januar (18 Uhr).
Karten: (06 81) 95 82 83 0.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort