Festival Perspectives Kindermorde und das Theater

Saarbrücken · Milo Rau gilt als einer der einflussreichsten Bühnenregisseure. Am Samstag zeigt er in Saarbrücken beim Festival Perspectives das Stück „Five Easy Pieces“ – über den belgischen Kindermörder Marc Dutroux. Wir haben mit Rau über seine Arbeit am Stück gesprochen.

 Regisseur Milo Rau, der bald Intendant in Gent wird.

Regisseur Milo Rau, der bald Intendant in Gent wird.

Foto: dpa/Jörg Carstensen

Völkermorde, Kriegsgräultaten, Amokläufe – Milo Rau bringt als Dokumentarregisseur regelmäßig das auf die Bühne, wovon wir uns am liebsten mit Grausen abwenden. Nach „Hate Radio“ (2016) und „Empire“ (2017) kommt er zu den Perspectives nun mit einem von Kindern „gespielten“ Stück über den belgischen Kindermörder Marc Dutroux. Wieder stochert der Regisseur, den die „Zeit“ den derzeit einflussreichsten Regisseur Europas nennt, in offenen Wunden.

Doch im Gespräch mit ihm merkt man: Er weiß, was er tut. Am Anfang stand das belgische Kulturzentrum Campo. Es lädt alle zwei Jahre einen Regisseur, der noch nie mit Kindern gearbeitet hat, ein, genau dies zu tun, erzählt Rau am Telefon. Belgien und Kinder? Da habe er eins und eins zusammengezählt und gesagt: „Dann mache ich was über Dutroux.“ Der Kindermörder stand schon länger auf Raus innerer Agenda. Motiv Nummer zwei: Kindertheater sei ja ein Ort des fröhlichen Spiels. Es reizte Rau, „dieses Konzept mal umzudrehen und Kindertheater neu zu denken“. Beim Casting, bei dem – wie auch später Psychologen und die Eltern der Kinder dabei waren – war er beeindruckt, geradezu schockiert, wie viel die belgischen Kinder schon über den Fall Dutroux wussten. „Ich erinnere mich“, erzählt er, „wie ein Zehnjähriger mir  erklärt hatte, dass man nach Vergewaltigungen DNA-Spuren aufnimmt.“ Gleichzeitig sei es für die Kinder so, als würde man ein Grimm-Märchen spielen, eine Geschichte aus alter Zeit.

In den „Five Easy Pieces“, wie das Stück heißt, lässt er sieben Kinder im Alter von acht bis 13 in die Rollen von Dutroux‘ Vater, einen Polizeioffizier und Eltern, die ein Kind verloren haben, schlüpfen. Sie sprechen Monologe. Dazu gibt es – dokumentarische – Videos. Während wir zuschauen, scheinen die Kinder zugleich uns zuzuschauen und sagen: „Das ist ein Drama für Euch. Für uns ist es das nicht, wir sind darüber weg oder auch später geboren“, beschreibt Rau eine der Botschaften, die das Stück vermittle.

Zusätzlich stellte Rau einen Casting-Direktor auf die Bühne: Assistent und Alter Ego. Kindertheater, auch Schultheater, werde ja nie von Kindern konzipiert, sondern immer von Erwachsenen, erklärt er dazu. Es habe ihn immer gewundert, warum man diese Figur des Erwachsen ausblende. Rau macht sie sichtbar. Was für ihn das Besondere daran ausmachte, mit Kindern zu arbeiten? Die Produktion, die fast ein Jahr dauerte, habe ihn auf Grundfragen der Arbeit als Regisseur zurückgeworfen, so Rau. Was ist eine Bühne, was eine Figur, was ein Monolog? „Alles Dinge, die für professionelle Schauspieler selbstverständlich sind, bei Kindern nicht. Und da stellt man sich die Frage nach dem Theater, nach der Livesituation, der möglichen Dramatisierung des Schreckens noch mal anders“.

„Five Easy Pieces“, uraufgeführt 2016 und seitdem auf Tour, erhielt nicht nur euphorische Kritiken. An einigen Orten, etwa in Frankfurt, München, in Manchester und anfangs auch London, berichtet Rau, durften sie es nicht spielen, sogar in Paris habe es ein große Petition dagegen gegeben. Sobald die Leute es gesehen hatten, sei die Abwehr jedoch geschwunden, war Raus Erfahrung. „Weil wir das Thema in einer sehr poetischen und humorvollen Weise angehen, teilweise natürlich auch sehr direkt, sehr schmerzhaft, berührend“. Es sei insgesamt etwas Universelleres geworden, über Angst und Macht und die Beziehung von Kindern und Erwachsenen als nur über Dutroux, versichert der Regisseur. Ab zwölf Jahren könne man es sich anschauen, rät er. In der nächsten Spielzeit übernimmt Milo Rau, der viel in Belgien arbeitet, die Leitung des Nationaltheaters in Gent. Inszenieren und touren könne er aber weiter so viel wie bisher, versichert der künftige Intendant. Und dank des riesigen Apparates vielleicht sogar noch mehr.

„Five Easy Pieces“ ist am Samstag (20 Uhr) und Sonntag (19 Uhr) in der Alten Feuerwache in Saarbrücken zu sehen. 90 Minuten in flämischer Sprache mit deutschen und französischen Untertiteln. Es gibt noch Karten.

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