Literatur für junge Leser Ängstlicher Raubritter trifft mutigen Knappen

Düsseldorf · Ein über 20 Jahre altes Romanfragment von Michael Ende ist jetzt vollendet und ein fantastisches Abenteuer für Kinder geworden.

  Regina Kehn hat das Buch von Michael Ende illustriert.

Regina Kehn hat das Buch von Michael Ende illustriert.

Foto: Regina Kehn

Manche Geschichten wollen einfach keine Ruhe geben. Spuken so herum, verstecken sich manchmal oder dösen ein wenig vor sich hin, bis sie sich dann doch zu räkeln beginnen und glauben, dass es nun an der Zeit sei, endlich weiter- und vielleicht sogar zu Ende erzählt zu werden. Wie zum Beispiel diese Geschichte von Rodrigo Raubein und seinem Knappen Knirps. Über zwei Jahrzehnte existierten von ihrem Abenteuer bloß die ersten drei Kapitel, kaum mehr als ein längerer Anfang. Zu viel, um die Geschichte zu ignorieren, und zu wenig, um sich mit ihr schon begnügen zu können.

Zumal es sich dabei um das fantastische Vermächtnis eines der größten Jugendbuchautoren handelt: Michael Ende hat bis kurz vor seinem Tod 1995 an dieser Geschichte gearbeitet und die ersten Seiten damals mit der Schreibmaschine fein säuberlich abgetippt. Ein „Romanfragment“ nannte man es und veröffentlichte es postum 1998 in dem Sammelband „Der Niemandsgarten“. So, als sollten die drei Kapitel den Schlussstein setzen zu einem großen Werk, das mit „Momo“, „Die unendliche Geschichte“ oder auch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ in 40  Sprachen übersetzt wurde und eine Gesamtauflage von über 30 Millionen Exemplaren erreichte.

Ihre Ruhe hat die Geschichte aber nicht gefunden. Sie rumorte so lange, bis Wieland Freund – Schriftsteller und Michael-Ende-Fan seit Jugendtagen – sich schreibend und fantasierend auf die Suche nach ihrem Fortgang machte. Jetzt liegt die ganze Geschichte vor, und dass es wahrscheinlich nicht das Abenteuer geworden ist, das Michael Ende damals vorgeschwebt haben könnte, liegt in der Natur der Dichtung. Dennoch ist es ein pfiffiges Buch geworden, witzig und fantastisch, nachdenklich und poetisch. Der Held ist (typisch Ende) ein Kind, das so heißt, wie es sich seine Eltern wünschen: Knirps. Der aber ist tapfer genug, der Welt die Stirn zu bieten und vor allem seinen Eltern auf und davonzulaufen. Die sind zwar Marionettenspieler, aber eigentlich spießig und sterbenslangweilig. Also türmt Knirps ausgerechnet im unheilvollen Bangewald und marschiert geradewegs zur Schauderburg, in der kein geringerer als Rodrigo Raubein haust. Der ist erstens – was alle Welt weiß – ein ziemlich schlimmer Raubritter, und zweitens – was niemand ahnt – ein ziemlich ängstlicher Mensch, der lieber seine Kakteen pflegt und zur Tarnung selbstgemachte Schädel und Knochen aus Gips um seine Burg als  Nachweis seiner Grausamkeit gestreut hat.

Mit der Ankunft von Knirps auf der Burg bricht der Text von Michael Ende ab und beginnt Wieland Freunds waghalsige Fortsetzung. Was passiert? Das Beste, was einer Geschichte passieren kann: Sie geht einfach abenteuerlich weiter. Und spätestens beim wunderschönen Wortungetüm der „kohlpechrabendusterern Nacht“ liest man sehr beruhigt weiter.

Es war gut, mit Wieland Freund einen waschechten Ende-Leser gefunden zu haben. Denn der legt nicht einfach los und zeigt, was er fantastisch so alles draufhat. Vielmehr hat er sich in aller Seelenruhe im Ende-Fragment umgeschaut und ist im Puppentheater-Wagen von Knirps Eltern fündig geworden. Denn dort  hängen an ihren Fäden Marionetten von Prinzessinnen und traurigen Königen, von Hexen, Zauberern, Drachen und Rittern. Was will man mehr? Also hat Wieland Freund sie zum Leben erweckt und in die Geschichte bugsiert.

Nicht vergessen sollte man noch den Papagei der Puppenspielerfamilie, der bemüht ist, seinem Namen Sokrates jede Menge Ehre zu machen. In einem alten Geschichtenbuch liest er nach, was noch so alles passieren und wie man Knirps vor großem Unheil bewahren könnte. Plötzlich findet sich der Leser im Michael-Ende-Universum wieder, das keinen Anfang und kein Ende kennt, das lauter kluge Fragen stellt und spaßeshalber auf Antworten verzichtet.

Wenn die Kleinen ganz groß und die Schwachen mächtig stark sind, wird die Welt auf den Kopf gestellt. Und das sind keine Lügengeschichten, sondern bloß andere Wahrheiten. Von nichts anderem hat Michael Ende immer erzählt, und von nichts anderem handelt auch das Märchen von Rodrigo Raubein und Knirps: Wie es nämlich ist, eine Marionette zu sein oder sich frei bewegen zu können. Und wie man erkennen kann, was man eigentlich will und ob man anderen oft nur etwas vormacht. Das hört sich immer banal an für den, der weiß, wo es langgeht. All jene aber, die das Grübeln über sich und die Welt noch nicht drangegeben haben, schenkt die Geschichte reichlich Nahrung. Und ganz am Ende – als aus dem blamablen Raubritter Rodrigo Raubein ein formidabler Puppenspieler geworden ist – gibt es noch ein paar Nachdenklichkeiten wie diese: „Aber es ist eben gar nicht so einfach, zu tun, was man will. Oft braucht man lange, um es herauszufinden, und manchmal braucht man dazu auch ein bisschen Glück.“

Michael Ende/Wieland Freund: Rodrigo Raubein und Knirps, sein Knappe. Mit Bildern von Regina Kehn. Thienemann, 202 S., 17 Euro.

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