Neue Bücher Fallobst ist eine ergiebige Erzählfrucht

Saarbrücken · Eine Halteboje im Meer der Neuerscheinungen: Ulf Erdmann Zieglers furioses Buch „Schottland und andere Erzählungen“.

Es dürfte in diesem Literaturjahr nicht viele Erzählbände geben, die es mit Ulf Erdmann Zieglers neuem aufnehmen können. Die virtuose Leichthändigkeit und absolute Stilsicherheit, mit der Ziegler darin ans Werk geht, springt in nahezu allen 14 Geschichten von „Schottland und andere Erzählungen“ ins Auge.

„Alles, was ich will, ist zu verstehen“, heißt es (durchaus programmatisch für diesen keine handlichen Figuren-Verständnispakete schnürenden Band) in der Auftakterzählung „So nah sie sein mag“ aus dem Mund eines Philosophiestudenten im Berlin der 80er. In einem ihm für einen Monat auf Kreta überlassenen Haus findet er ein Bücherbord mit 54 Theorie-Klassikern, das ihm dann ein Jahr als Lektürekanon dient. Zehn Seiten genügen Ziegler, um nicht nur eine kleine Leseschule zu umreißen („Ich übertrage Sätze auf Karteikarten, und wenn ich durch bin, blättere ich noch einmal hinein und suche nach meinen großen Fragezeichen am Rand“), sondern zugleich die subtile Annäherung zwischen seinem Erzähler und einer Mitstudentin zu schildern. So unvermittelt, wie Ziegler zu seinem Vexierbild anhebt, so abrupt lässt er es enden – mit beider erster Berührung.

Immer wieder lässt er uns gleich mit dem ersten Satz in etwas hineingeraten, das sich am ehesten als atmosphärisches Lebensgefüge umreißen ließe. Keine nahtlosen Wenn-dann-weil-Episoden, eher das kursorische Herumblättern in einem Lebensalbum, das ja selbst voller Zeitsprünge ist. Wenn es in „Kette verlieren“ etwa über Gymniasten heißt, „wir waren riesige Köpfe auf kurzen Beinen“, so klingt darin die ganze (ebenso wunderbare wie trügerische) Unbezwingbarkeitslust Adoleszierender an. Erst ganz zum Schluss dieser vierseitigen Vignette wird klar, dass sich hier einer beim Hören einer alten Musikkassette im Auto an seine Jugend unter „Ferienlagerchristen“ erinnert – „die Hosen voll bei Mädchen, die es wirklich wollten“. Überhaupt kesselt Ziegler meist mit wenigen geübten erzählerischen Handgriffen die Erinnerungen seiner Behelfs-Ichs an ihre Jugend ein. Gleich mehrere führen zurück ins norddeutsche Schwiederstorf, wo sie die Angst umtrieb, in einem überschaubaren Unglück zurückzubleiben, während das Leben munter an ihnen vorbeizieht. „Endstation“ etwa handelt von der Rückkehr an diesen Ort früh zersprungenen Kindheitsglücks: Was da zu sehen ist? „Bushaltestellen, in deren Glaswände Hakenkreuze und steife Schwänze geritzt waren.“

Das ist das Prinzip dieser Erzählungen: Sie streuen eher im Vorbeigehen ihre Stimmungsbilder aus, ohne mit großem Pinsel ein wohlkomponiertes Gesamtpanorama zu malen. Nein, Ziegler – im echten Leben mit der Frankfurter Kulturdezernentin Ina Hartwig verheiratet und seit seinem Debüt „Hamburger Hochbahn“ von 2007 ein Meister beiläufigster Verdichtungen – zielt mit seinem Suchscheinwerfer eher auf solche Szenen, in denen nichts dramatisch zugespitzt wirkt und keine dicke Lebensmetapher um die Ecke spitzt. Er treibt sich an den biografischen Rändern herum und liest dort das Fallobst auf. In „Der äußere Arm der Konstruktion“, einem der hinreißendsten Texte, zieht er auf zehn Seiten die losen Fäden einer alten Studenten-Liaison über zehn Jahre hinweg nochmal zusammen: das BWL-Studium in Mannheim; „das wolkige Geschätz und die politische Agitation der Kommilitonen“; der Ferienjob bei John Deere, aus dem dann zwei Dauer-Jobs wurden; das Sich-Auseinanderleben; erst sie, dann auch eher verheiratet; das Wiederaufflackern ihrer Affäre und zuletzt Angelikas Krebstod. Zurück bleibt „eine ungeahnte, zärtliche Wendung von Freundschaft, die umso klarer schien und feiner leuchtete, als alles Drumherum unverrückbar feststand, so wie ein Rahmen, der leer ist, bevor darin das Wunschbild erscheint.“

Die Patina, die über diesen Erzählungen liegt, ritzt Ziegler gerne auf – das erklärt den schneidenden Ton, mit dem seine Erzähler-Ichs zurückschauen – wohlwissend, was aus dem Übermut und der Sinnsuche geworden ist: manchmal ein leerer Seelentresor. So wie einige Texte (in Sujets wie Figuren) korrespondieren, wirken Teile des Buches wie Bruchstücke eines nicht geschriebenen Kindheitsromans (Fährten dazu legt ihr Autor in „Der Weisheit also näher“ und „Zerbrochener Spiegel“ aus). Ob Missbrauch unter Pfadfindern („Detroit“), das Porträt eines einfallslosen Videokunst-Heroen („Video-Vampir“) oder das Trauma eines Betriebspsychologen mit Helfer-Syndrom bei der Freiwilligen Feuerwehr („Letzte Rettung“) – immer hält Ulf Erdmann Ziegler genug in der Schwebe, damit wir noch lange danach greifen.

Ulf Erdmann Ziegler: Schottland und andere Erzählungen. Suhrkamp, 190 Seiten, 22 €.

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