Nachrufe Der Chronist eines ganzen Jahrhunderts

Saarbrücken · Im Alter von 83 Jahren ist der zeitlebens unterschätzte, große Schriftsteller Dieter Forte in Basel gestorben.

Sein letztes Buch spielte in einer alten Bibliothek. Es war die Suche nach dem Ursprung der Sprache im Labyrinth der Literatur, das wie jedes echte Labyrinth keinen Ausweg kennt, sondern allein im Verirren Sinn findet. In so einem Labyrinth hatte sich Dieter Forte mit „Als der Himmel noch nicht benannt war“ begeben. Dass er damit sein großes Werk beschließen konnte, ist vielleicht die glückliche Fügung seines Leben gewesen. Forte, einer der großen deutschsprachigen Nachkriegsautoren und der nach Heine bedeutendste Dichtersohn Düsseldorfs, ist jetzt im Alter von 83 Jahren gestorben – in Basel, seiner zweiten Heimat, die auch sein Exil war.

Ein deutsches Autoren-Exil noch im späten 20. Jahrhundert? Es war kein politisches, viel eher ein literarisches. Seine Geburtsstadt schien ihn vertrieben zu haben – durch Missachtung. 1970 war es, als sein erstes Drama „Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung“ am Schauspielhaus uraufgeführt werden sollte. Dann kam die Absage – nach Interventionen aus dem Rathaus, wie später immer wieder vermutet wurde. Forte, der nie ein Lauter und auch kein Kämpfer gewesen ist, nahm Reißaus. Nach Basel also, wo sein Stück auf die Bühne kam und von dort aus zum Welterfolg wurde, in 50 Sprachen übersetzt und bald auch in Tokio und New York zu sehen. Dieter Forte blieb in Basel und wurde (als direkter Nachfolger von Friedrich Dürrenmatt) Hausautor am Theater dort.

Forte war ein Dichter am Rande des Literaturbetriebs, ein Bedenkender, kein Selbstvermarkter. „Ein guter Satz, das ist schon was“, sagte er einmal. Aber keiner beschreibt ihn besser, als er selbst es tat in dem Langgedicht über den schreibenden Erasmus von Rotterdam (1466-1536), wie ihn Holbein malte. Die Bildbeschreibung des Humanisten – der ebenfalls in Basel seine letzte Ruhestätte fand – ist Forte zum idealistischen Selbstporträt geworden: mit dem „lächelnden Wahrheitssucher“ und „zornigen Emigranten“, wie es darin heißt, ein Weltbürger, der isoliert in der Erkenntnis ist, „in der Ohnmacht der Vernunft, in der Einsamkeit des Schreibenden, den kränklichen Körper schützend“.

Auch Dieter Forte ist fast sein ganzes Leben krank gewesen, lungenkrank seit jungen Jahren. Darüber hat er später geschrieben in dem Roman „Auf der anderen Seite der Welt“ von 2004, ein düsteres Überlebensbuch. Sein Opus Magnum aber wurde die Tetralogie „Das Haus auf meinen Schultern“, eine über Jahrhunderte reichende Familiensaga. Es ist die Geschichte seiner Familie und ein Epos über die schrecklichen Kriege und verzweifelten Friedensschlüsse, über Untergang und Wiederaufbau. Diese Tetralogie ist als Einheit ein Weltenbuch geworden. Man begreift auf diesen vielen hundert Seiten plötzlich viel von dem Irrsinn hier auf Erden, von unserem Streben, unserem Verzagen, unserem Eifer, von Kunst und Lebenslust. Und von Menschen, die mit rheinisch unbedarfter Leichtigkeit Nazis wurden.

Dass sein letztes, erst vor ein paar Wochen erschienenes Werk „Als der Himmel noch nicht benannt war“ sein Abschiedsbuch werden würde, konnte niemand wissen. Aber man konnte es ahnen, herauslesen aus den Worten und Sätzen auf den nicht einmal 100 Seiten. Es geht darin um nicht weniger als die 5000 Jahre währende Geschichte der Menschheit, die Erschaffung der Welt und die Erfindung der Sprache. Unglaublich, kaum fassbar. Forte war den Menschen auf der Spur mit einer Expedition durch eine große Bibliothek. Wer ihn kennt, weiß, dass dieser wunderliche Ort kein anderer sein kann als die Stätte der „Allgemeinen Lesegesellschaft Basel“ von 1787 mit ihren 75 000 Büchern, fast jeden Tag im Jahr geöffnet und gleich neben dem Münster gelegen. Sein letztes Buch geriet ihm zur Bilanz und ist uns Lesern ein Trostbuch – mit der Bibliothek als Sinnbild der Ewigkeit.

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