Erster Favorit beim Filmfestival Das schreckliche Mädchen der Berlinale

Berlin · Kaum ist die Berlinale gestartet, hat sie schon, nach einem lauen Eröffnungsfilm, einen Favoriten: „Systemsprenger“ der deutschen Regisseurin Nora Fingscheidt.

 Helena Zengel als Benni im Wettbewerbsfilm „Systemsprenger“. Der Film von Nora Fingscheidt hat in Berlin bei seiner Vorstellung begeistert.

Helena Zengel als Benni im Wettbewerbsfilm „Systemsprenger“. Der Film von Nora Fingscheidt hat in Berlin bei seiner Vorstellung begeistert.

Foto: dpa/Peter Hartwig

) Eine Gruppe von einsamen Verlierergestalten findet über Zufall und Missgeschick zusammen, was zu rührenden Akten von Solidarität und nicht weniger rührenden Momenten von Romanze führte: Das war der Plot von Lone Scherfigs „Italienisch für Anfänger“, mit dem sie bei der Berlinale 2001 den Jury-Preis erhielt. Mit ihrem neuen Film, „The Kindness of Strangers“, eröffnete die dänische Regisseurin nun am Donnerstagabend die 69. Berlinale – und liefert darin eine Art nostalgische Wiederaufbereitung ihres Erfolgsfilms von vor 18 Jahren.

Scherfig siedelt die Erzählung in einem winterlichen New York an. Dorthin flieht die Mutter Clara mit ihren zwei kleinen Söhnen vor einem prügelnden Ehemann. Dorthin kommt der frisch aus dem Gefängnis entlassene Marc. Dort landet der unstete Jeff auf der Straße, und dort versucht die nimmermüde Alice als Krankenschwester und Freiwillige die menschliche Not um sie herum zu lindern. Ihre Wege kreuzen sich im „Winter Palace“, einem heruntergekommenen einstigen Luxusrestaurant. Die Figuren sind mit Witz und Emotion gezeichnet, dennoch kommen die Dinge in Scherfigs Film diesmal nicht wirklich zusammen. Einerseits fast zwanghaft melodramatisch, andererseits zu süßlich, wird aus einem Film, der die wirtschaftlichen Nöte der Menschen ernst nehmen will, ein flaches Rührstück. Dennoch ist „The Kindness of Strangers“ ein typischer Berlinale-Film im besseren Sinne: sympathisch, gefällig, ein bisschen exzentrisch und politisch mit dem Herzen auf dem rechten Fleck.

Ähnliches gilt für den Film „Öndög“ des zweiten Berlinale-Gewinners im Wettbewerb, Wang Quan‘an aus China. Sein Film „Tuyas Hochzeit“ wurde 2007 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet; er spielte fast ausschließlich in einem Nomadenzelt in der mongolischen Grassteppe. Und genau dahin kehrt Wang Quan‘an auch mit seinem neuen Film zurück. „Öndög“ heißt Dinosaurier, so erfährt man im Lauf des Films, der sich fast ausschließlich zwischen zwei Personen abspielt. Die ersten und ältesten Dinosaurier-Reste habe man hier in der Steppe gefunden, erklärt an einer Stelle ein Hirte seiner Nachbarin und scherzhaft reden sie über die „Dinos“, die sie gemeinsam in die Welt setzen könnten.

Der Film beginnt mit der Entdeckung einer nackten Leiche, aber was eine Krimihandlung zu versprechen scheint, entwickelt sich zu einer launigen Betrachtung des einsamen Steppenlebens. Im Zentrum steht eine eigenwillige, starke Frau, die auf ihrer Selbstständigkeit inmitten des flachen, kalten Graslands besteht. Gedreht in langen Einstellungen, die die Weite der Landschaft in verzaubernder Form stets mit im Blick hat, ist auch „Öndög“ ein typischer Berlinale-Film, allerdings im besten Sinn: exotisch, voll interessanter ethnographischer Details und dabei auf einfallsreiche Weise den vertrauten Mustern des Feelgoodmovies folgend.

Am Freitag startete der erste deutsche Film im Wettbwerb, „Systemsprenger“: Laut, aggressiv und unzähmbar verwüstet die neunjährige Benni ihr Leben. Sie schlägt ihre Spielkameraden, zerstört Spielzeug, verflucht ihre Erzieher, und mit allem, was sie packen kann, geht sie los auf ihre Umwelt. Was auch immer Staat und Gesellschaft auffahren, um sie zu integrieren, um ihr ein soziales Leben zu ermöglichen, das diesen Namen verdient: Benni sagt nein.

Mit ihrem ersten Langspielfilm setzt die 1983 geborene Autorin und Regisseurin Nora Fingscheidt Maßstäbe für den Wettbewerb. „Systemsprenger“ ist zwingend erzählt: Wir begleiten die Heldin durch Hilfsschule und Einrichtungen, wir sind bei ihr, wenn sie mit einem Erzieher in einer Hütte Therapie-Urlaub macht, wir erleben mit, wie sie Ärzte, Erzieher, Therapeuten, die Leute von der Fürsorge und nicht zuletzt ihre Mutter schier um den Verstand bringt. Dabei will Benni nur eins: das Gefühl von Familie – zurück zu Mama. Die aber ist völlig überfordert mit ihrer Tochter und überhaupt von ihrem Leben zwischen Glotze, Lebensabschnittsbegleiter und zwei weiteren Kindern.

Es gelingt Fingscheidt, vor der alltäglichen Kulisse des therapeutischen Systems das lebendige Porträt einer tragischen Heldin zu zeichnen. Dabei erliegt sie nicht der Versuchung, ihre junge Protagonistin zu einer Ikone unbedingten Freiheitswillens zu stilisieren. Bennis Schicksal ist alles andere als romantisch; wenn sie rot sieht, nimmt auch sie selber Schaden. In diesen Momenten des Kontrollverlusts überwältigt der Film seine Zuschauer vollends: Traumsplitter, Erinnerungen an ein frühes Trauma, Bilder von Gewalt und Not brechen über die Zuschauer herein. Das Ganze ist schmerzhaft und atemberaubend spannend. Eine große Wahrhaftigkeit spricht aus diesem Film: Fingscheidt vermeidet es, der Umwelt die Schuld an Bennis Katastrophe zuzuschieben. Ebenso wenig verfällt sie auf den billigen Trost, den robusten Erzieher Michael als patenten Problemlöser anzubieten. Sowas funktioniert nur in Traumfabriken.

Fingscheidts Film aber spielt in der Wirklichkeit – und zugleich mitten in den Herzen seiner Zuschauer. Völlig zurecht wurde schon Fingscheidts Drehbuch mit mehreren Preisen bedacht. Der Film nun macht Bennis Geschichte vollends zum großen Drama. Wie auch immer die Regisseurin mit ihrer jungen Darstellerin Helena Zengel gearbeitet hat: Das Ergebnis ist unvergesslich. Glück, Trauer, Verzweiflung, Wut, Angst, Übermut sprechen aus diesem Gesicht eines Kindes, und jedes dieser Gefühle geht den Zuschauer unmittelbar an. Die Berlinale hat ihren ersten Favoriten.

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