Referendum „Der Irak ist erledigt“

Erbil · Seit Jahrzehnten träumen die Kurden im Norden des Iraks von der Unabhängigkeit. Jetzt sind sie fest entschlossen, sich vom Rest des Landes abzuspalten.

 Kurdische Frauen bei einer Kundgebung ihres Präsidenten Massud Barsani im irakischen Erbil. Das Referendum, bei dem die Kurden über ihre Unabhängigkeit abstimmen, ist für heute geplant.

Kurdische Frauen bei einer Kundgebung ihres Präsidenten Massud Barsani im irakischen Erbil. Das Referendum, bei dem die Kurden über ihre Unabhängigkeit abstimmen, ist für heute geplant.

Foto: dpa/Oliver Weiken

Die Menge wogt und feiert über Stunden. Zehntausende Kurden sind ins Fußballstadion der nordirakischen Stadt Erbil geströmt, kein Platz ist mehr frei. Im Innenraum stehen die Menschen bei fast 40 Grad Körper an Körper, verschwitzt und so dicht, als seien sie eine einzige große Masse.

Sie singen, sie tanzen, sie schwenken kurdische Fahnen, Rot-Weiß-Grün, in der Mitte eine Sonne. „Bale, Bale“-Rufe hallen durch das Stadion: „Ja, Ja“ zur kurdischen Unabhängigkeit. „Der Irak ist erledigt“, brüllt ein Mann. „Er wird nicht mehr benötigt.“

Es ist am Freitagnachmittag die letzte Kundgebung, bevor Nordiraks Kurden am heutigen Montag in einem Referendum über ihre Un­abhängigkeit abstimmen, um sich einen alten Traum zu erfüllen. In ihren Autonomiegebieten genießen sie zwar große Selbstständigkeit, nun aber wollen sie mehr. Die Kurden könnten zwischen Unterordnung und Freiheit wählen, ruft ihr Präsident Massud Barsani der Masse zu: „Wir können nicht länger mit Bagdad leben.“

Doch der Widerstand gegen die Volksabstimmung der Kurden ist groß. Fast täglich wetterte Iraks Ministerpräsident Haidar al-Abadi, das Referendum sei verfassungswidrig. Ihn treibt die Angst um, ausgerechnet in seiner Amtszeit könnte der Irak auseinanderbrechen. Ein Anführer der mächtigen Schiitenmilizen, Hadi al-Amiri, warnte sogar, die Volksabstimmung könnte zu einem neuen Bürgerkrieg führen.

Vor allem aber die großen Nachbarn Türkei und der Iran üben massiven Druck auf die Kurden aus, weil sie befürchten, die Absetzbewegungen ihrer eigenen kurdischen Minderheiten könnten Nahrung erhalten.

Selbst die USA, eigentlich ein enger Verbündeter der Kurden, stellen sich gegen das Referendum. Das Weiße Haus kritisierte die Pläne als „provokant und destabilisierend“. Washington argumentiert, erst müsse die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Irak besiegt sein, dann könne über eine kurdische Unabhängigkeit gesprochen werden.

Doch dieses Argument will der kurdische Analyst Saro Qadir nicht gelten lassen. „Der Kampf gegen den Terror wird noch Jahre dauern“, sagt der Berater von Präsident Barsani. Überhaupt hält er den irakischen Staat, der von der Mehrheit der Schiiten dominiert wird, für gescheitert. Anders als in der Verfassung vorgeschrieben seien nicht alle Gruppen – die arabischen Schiiten und Sunniten genauso wie die Kurden – gleichermaßen beteiligt worden. „Deswegen ist es unser Recht, den besten Zeitpunkt für unsere Interessen zu bestimmen.“

Das Verhältnis zwischen den Kurden und Bagdad ist schon seit langem angespannt. Der Langzeitherrscher Saddam Hussein unterdrückte ihre Rechte und setzte Giftgas gegen sie ein, was sich ins kollektive Gedächtnis der Kurden eingebrannt hat. Auftrieb bekamen die kurdischen Unabhängigkeitsbestrebungen 2014, als die Soldaten der irakischen Armee vor dem Ansturm des IS einfach wegrannten und die Extremisten fast bis in die kurdische Hauptstadt Erbil vormarschiert wären. Immer wieder streiten sich Kurden und Zentralregierung um Öleinnahmen.

Für besonders provokant halten Kritiker Barsanis Entscheidung, auch in Gebieten abstimmen zu lassen, die Erbil und Bagdad gleichermaßen beanspruchen. Im Zentrum des Streits steht die Provinz Kirkuk, die zu den ölreichsten des Iraks zählt – ein Reichtum, den die Kurden benötigen, soll ihr Staat wirtschaftlich lebensfähig sein. Eigentlich steht Kirkuk unter Hoheit der Zentralregierung in Bagdad, doch die Kurden nutzten den Kampf gegen den IS, um dort einzurücken.

Die Abstimmung in Kirkuk ist auch deshalb heikel, weil die Stadt multiethnisch ist. Kurden leben hier genauso wie irakische Araber, Turkmenen und andere Minderheiten. Ali Mehdi, Sprecher der Turkmenischen Front, wirft den Kurden vor, die Demografie Kirkuks in den vergangenen Jahren zu ihren Gunsten verändert zu haben. „Sie haben Hunderttausende Kurden nach Kirkuk geholt“, sagt er.

Die Kurden halten dagegen, die Stadt gehöre historisch und geografisch zu ihnen, nicht zum arabischen Teil des Iraks. „Dieser Boden hier ist kurdischer Boden“, sagt Dilschad Perot Asis, der für Barsanis Partei KDP in Kirkuks Provinzrat sitzt. „Schauen sie auf den Friedhof. Da gibt es nicht ein einziges arabisches Grab.“

Es gilt als sicher, dass sich die Kurden in dem Referendum mit großer Mehrheit für die Unabhängigkeit aussprechen. Vor allem in Kirkuk könnten die Spannungen dann zunehmen, Gewalt inklusive. Die Blicke richten sich insbesondere auf die von Iran kontrollierten schiitischen Milizen, die Teheran als Druckmittel einsetzen könnte.

Die Kurden wollen sich davon nicht beeindrucken lassen. „Wenn sie (die schiitischen Milizen) etwas machen, werden wir ihnen unsere Antwort zeigen“, sagt Kamal Kirkuki, Kommandeur der kurdischen Peschmerga-Kämpfer an der Front zum IS westlich von Kirkuk. „Wir werden das Referendum abhalten. Es soll passieren, was passiert.“

(dpa)
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