Bundesverfassungsgericht Wahlrecht benachteiligt Behinderte

Berlin · Menschen mit angeordneter Betreuung sollen wählen dürfen. So steht es im Koalitionsvertrag. Jetzt mahnt auch Karlsruhe, das Wahlrecht entsprechend zu ändern.

 Rund 85 000 Behinderte und psychisch Kranke dürfen in Deutschland nicht wählen. Zu Unrecht, wie das Bundesverfassungsgericht jetzt urteilte. Jetzt muss das Wahlrecht entsprechend geändert werden.

Rund 85 000 Behinderte und psychisch Kranke dürfen in Deutschland nicht wählen. Zu Unrecht, wie das Bundesverfassungsgericht jetzt urteilte. Jetzt muss das Wahlrecht entsprechend geändert werden.

Foto: dpa/Frank Rumpenhorst

Die Politik muss das Wahlrecht für Behinderte neu regeln. Das verlangt das Bundesverfassungsgericht in einem gestern veröffentlichten Urteil – und kommt damit einer überfälligen Entscheidung von Union und SPD zuvor. Schätzungsweise 85 000 Behinderte und psychisch Kranke dürfen in Deutschland nicht wählen. Zu Unrecht, wie die Karlsruher Richter nun befanden. Demnach verstoßen Teile des Bundeswahlgesetzes gegen die Verfassungsgrundsätze der Allgemeinheit der Wahl und des Verbots der Benachteiligung wegen einer Behinderung. Menschen, die auf gerichtlich bestellte Betreuung in allen Angelegenheiten angewiesen sind, dürften nicht pauschal von Wahlen ausgeschlossen werden, so die Richter. Zugleich wiesen sie darauf hin, dass Personen, die selbst eine Betreuungsvollmacht verfasst haben und im Familienkreis versorgt werden, nicht vom Entzug des Wahlrechts betroffen sind. Das sei eine „Ungleichbehandlung“.

Bereits in der 2008 in Kraft getretenen und auch von Deutschland unterzeichneten UN-Behindertenrechtskonvention ist festgelegt, dass Menschen mit Handicap gleichberechtigt am politischen und öffentlichen Leben teilhaben sollen. Doch wirklich ernst genommen wird die Konvention offenbar nur von den Behindertenverbänden und der Opposition. So hatten Grüne und Linke schon in der vergangenen Wahlperiode mit einem eigenen Gesetzentwurf auf jene Änderungen beim Wahlrecht gepocht, die Karlsruhe jetzt anmahnt. Die damals gescheiterte Vorlage soll Mitte März erneut im Bundestag diskutiert werden.

In ihrer Koalitionsvereinbarung haben Union und SPD allerdings Besserung gelobt. Dort heißt es: „Unser Ziel ist ein Wahlrecht für alle“. Man werde den Ausschluss von Menschen, die sich durch eine Vollbetreuung unterstützen ließen, „beenden“. Seit dem vergangenen November gibt es dazu auch ein Papier, das zwischen den Innenpolitikern der Koalitionsfraktionen und Innenminister Horst Seehofer (CSU) abgestimmt ist. Doch seitdem tritt die Sache auf der Stelle. Hintergrund ist, dass es in der Union auch die Idee einer Einzelfallprüfung gibt, was die SPD ablehnt „Die Spitze der Unionsfraktion hat bislang verhindert, dass die Einigung zwischen den Innenpolitikern auch im Bundestag verabschiedet werden kann“, kritisierten SPD-Fraktionsvize Eva Högl und der Innenexperte der Partei, Burkhard Lischka.

Der Richterspruch geht allerdings klar über den Vorschlag der Innenpolitiker hinaus. So soll das Wahlrecht künftig auch für Straftäter gelten, die wegen Schuldunfähigkeit in psychiatrischer Betreuung sind. Das hat die Union stets abgelehnt. Für eine notwendige Gesetzreform bleibt aber ein gewisser Spielraum. Denn die Richter wiesen auch darauf hin, dass ein Wahlausschluss gerechtfertigt sein könne, wenn Menschen nicht hinreichend am „Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen“ teilnehmen könnten.

Die Grünen reagierten mit Genugtuung: „Das Urteil ist ein saftiger Strafzettel für die Bundesregierung“, meinte Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Der Bundesbehindertenbeauftragte Jürgen Dusel fordert, dass es diese Wahlausschlüsse schon bei der Europawahl am 26. Mai nicht mehr geben dürfe.

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