Ausnahmezustand endet Die Türkei ist von der Normalität weit entfernt

Istanbul · Offiziell endete in der Nacht zu gestern der Ausnahmezustand. Dass es nun wieder mehr Freiheit im Land gibt, ist nicht zu erwarten.

 Fußgänger auf einer Straße in Istanbul. Am Bosporus endete nun – wie in der gesamten Türkei – der Ausnahmezustand.

Fußgänger auf einer Straße in Istanbul. Am Bosporus endete nun – wie in der gesamten Türkei – der Ausnahmezustand.

Foto: dpa/Lefteris Pitarakis

Partys gibt es nicht in der Nacht. Als um ein Uhr morgens Ortszeit der Ausnahmezustand ausläuft, ist es grabesstill im Land. Die Türkei verschläft die ersten Stunden ohne den „Olaganüstü Hal“ (OHAL), den „außerordentlichen Zustand“, der das Leben von vielen Zehntausend Türken schwer gezeichnet hatte. Viele Türken hatten schon vor dem Stichtag geglaubt, dass das Leben im „Normalzustand“ sowieso keine Änderung bringt. Seit Tagen machen in sozialen Medien Wortspiele die Runde wie: „OHAL geht, aber O HAL kommt“ – „Der Notstand geht, aber ‚dieser Zustand’ kommt.“

Mit „diesem Zustand“ meinen sie die Unterordnung ihres Alltags unter den Primat der Sicherheit. Zwei Jahre sind vergangen nach dem Putschversuch von 2016 – der „Kampf gegen den Terror“ bleibt der blutrote Faden der türkischen Politik.

Viel Zeit, sich an die neue Freiheit zu gewöhnen, bleibt tatsächlich nicht. Zehn Stunden nach dem Ende des Ausnahmezustands trifft sich am gestrigen Donnerstag schon die Justizkommission des Parlaments in Ankara, um einen neuen Gesetzesentwurf zu besprechen, der helfen soll, „den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterzuführen“. Er scheint Regeln, die im Ausnahmezustand galten, auch für die Zukunft festschreiben zu wollen. Eine würde die Versammlungsfreiheit beschneiden, eine weitere Teile der Machtfülle der Gouverneure aus der Zeit des Notstands permanent machen, eine andere scheint mehr Entlassungen aus dem Staatsdienst vorzubereiten. Das Gesetz werde den Ausnahmezustand um Jahre verlängern, merkt der Sprecher der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP bitter an.

Aber die Stimmung im Land liegt irgendwo zwischen Apathie und Desinteresse. Mitglieder der Regierungspartei AKP sagen, 70 Prozent der Türken hätten den Ausnahmezustand begrüßt und gewollt. Die Anti-Terror-Agenda von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat wohl wirklich bei vielen Menschen Anklang gefunden – sie haben ihn auch deswegen bei den Wahlen am 24. Juni mit 52,6 Prozent Zustimmung als ihren Präsidenten wiedergewählt.

Aber Regierungen und Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass Erdogan den Ausnahmezustand auch dazu genutzt habe, seine Macht auszubauen und kritische Stimmen zum Verstummen zu bringen. Can Dündar, der in Deutschland exilierte Ex-Chef der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“, twittert von einem „Imperium der Angst“.

Die Welt reagiert emotionaler als die Türkei. Die EU verschickt eine scharfe Mahnung. Man begrüße das Auslaufen des Ausnahmezustands. Zugleich würden „positive Effekte gedämpft“ durch das geplante Anti-Terror-Gesetz, das „zahlreiche restriktive Elemente aus dem Ausnahmezustand“ beibehalten würde. Der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) schlägt in dieselbe Kerbe: Es dürfe keine Verlängerung des Ausnahmezustands durch die Hintertür geben, sagte er.

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