Von Detlef Drewes EU droht Polen mit „Atombomben“-Artikel

Brüssel · Brüssel will nicht mehr zusehen, wie das Land zur Diktatur wird, und plant, Warschau alle Stimmrechte zu entziehen.

Für einen kurzen Moment klang an diesem Mittwochmittag alles so, als würde die EU-Kommission im polnischen Streit wieder mal vor scharfen Konsequenzen zurückschrecken. Zwar griff Vizepräsident Frans Timmermans zu deutlichen Worten: „Die Rechtsstaatlichkeit ist bedroht.“ Und: „Nach der jetzt geplanten Justizreform sind die Richter den politischen Führern hörig.“ Aber dann holte er doch noch das gefürchtete Ass aus dem Ärmel: „Angesichts der jüngsten Reform stehen wir ganz kurz davor, Artikel 7 auszulösen.“ Im Brüsseler Diplomaten-Jargon wird dieser Weg als „Atombombe“ bezeichnet.

Mit der Mehrheit aller übrigen Mitgliedstaaten können einem Land wegen des Verstoßes gegen demokratische Werte wie die Unabhängigkeit der Justiz die Stimmrechte in allen wichtigen Ministerräten entzogen werden. Ein unvorstellbar heftiges Instrument. Man stelle sich nur vor: Warschau dürfte bei Entscheidung über den Agrar- oder Binnenmarkt, in der Innen- und Sicherheitspolitik, ja nicht einmal mehr über die Aufnahme von Flüchtlingen mitreden. Der Weg ist lang, vielleicht sogar unmöglich, weil eine einstimmige Entscheidung aller übrigen Regierungen (darunter die Polen eng verbundenen Partner in Tschechien, der Slowakei oder Ungarn) kaum erreichbar erscheint. Aber es zählt wohl auch das Symbol: Warschau wäre vor der Weltöffentlichkeit zutiefst blamiert.

„Wir werden alle Dokumente für ein Vertragsverletzungsverfahren vorbereiten“, präzisierte Timmermans gestern das, was die Kommission am Vormittag beschlossen hatte. Es klingt wie eine letzte Schonfrist, die umstrittene Auflösung des Landesrichterrates, eines Verfassungsorgans zur Sicherstellung der Unabhängigkeit der Justiz, aufzugeben. Nachdem Staatspräsident Andrzej Duda am Vorabend sich sogar erstmals geweigert hatte, das notwendige Gesetz zu unterschreiben, hofft Brüssel auf die Wende. Aber die Atmosphäre ist längst vergiftet. Timmermans wird in Polen offen angefeindet. Und nachdem die Korrespondentin eines polnischen TV-Senders via Internet sogar Morddrohungen erhalten hatte, weil sie im Brüsseler Presseraum kritische Fragen gegen die PiS-Regierung in ihrer Heimat gestellt hatte, zeigt sich die EU aufgeschreckt. „So funktioniert keine freie Gesellschaft“, nahm Timmermans die Journalistin in Schutz. Zuvor hatte bereits Tom Weingärtner, Präsident der Vereinigung der in Brüssel akkreditierten Auslandskorrespondenten (API), die EU aufgefordert, „das Recht der Meinungs- und Ausdrucksfreiheit offensiv zu verteidigen.“

Doch der Gesprächskontakt in die polnische Führungsspitze scheint abgerissen. Mehrere Einladungen der Kommission zu Gesprächen blieben unbeantwortet. Timmermans selbst hatte Polen mehrfach besucht, war aber nicht mit Regierungsvertretern zusammengetroffen. Jetzt droht eine weitere Eskalation. Dass man inzwischen vor scharfen Sanktionen nicht mehr zurückschreckt, hatte zuvor die tschechische EU-Kommissarin Vera Jourova deutlich gemacht. In einem Interview mit der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ sprach sie sich dafür aus, es nicht beim Entzug der Stimmrechte zu belassen. Sie will auch die Fördergelder der EU einfrieren. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass etwa deutsche oder schwedische Steuerzahler für die Errichtung einer Art von Diktatur in einem anderen EU-Land bezahlen wollen.“ Im laufenden siebenjährigen EU-Finanzrahmen sind 23,2 Milliarden Euro für Warschau vorgesehen – mehr als ein Drittel aller Mittel.

Realistisch ist der Geld-Entzug nicht. Laut Jourova wäre das erst ab 2021 möglich. Denn am aktuellen Finanzrahmen bis 2020 kann nicht mehr gerüttelt werden. In den Verhandlungen über die nächste Periode könnten Deutschland und andere Mitgliedstaaten dann versuchen, Polen Mittel zu kürzen. Das Problem bei den Haushaltsvereinbarungen ist, dass sie zwar in Teilbereichen per Mehrheit beschlossen werden, die EU-Regierungen die Grundausrichtung aber einstimmig festlegen. Wenn Polen also nicht mitzieht, bleibt alles so, wie es ist – oder es wird schlimmer.

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