SPD für Groko-Verhandlungen Nach fünf langen Stunden sagen sie doch Ja

Bonn · Die SPD entscheidet sich nach einer harten, aber fairen Diskussion knapp für Koalitionsverhandlungen. Doch das Zittern geht weiter.

Für eine Groko: Der SPD-Bundesvorstand – hinter Martin Schulz die saarländische SPD-Vize Anke Rehlinger – stimmte für Koalitionsverhandlungen. Insgesamt sagte der Parteitag mit 56 Prozent Ja.

Für eine Groko: Der SPD-Bundesvorstand – hinter Martin Schulz die saarländische SPD-Vize Anke Rehlinger – stimmte für Koalitionsverhandlungen. Insgesamt sagte der Parteitag mit 56 Prozent Ja.

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Andrea Nahles‘ Stimme überschlägt sich regelrecht. Nie hat man die Fraktionsvorsitzende so wütend gesehen. „Die zeigen uns den Vogel, die zeigen uns doch den Vogel“, schreit sie in den Saal. Sie meint die Bürger. Ihre Rede ist der emotionale Höhepunkt einer Debatte, die auch eine Lehrstunde in Sachen Demokratie ist. Eine Partei – die sozialdemokratische – ringt mit sich um eine wichtige Frage. Fünf Stunden lang mit aller Leidenschaft und Dramatik. Aber es wird nie verletzend. Am Ende votiert eine knappe Mehrheit von 56 Prozent für Groko-Gespräche. Und niemand schreit auf.

Bilder vom SPD-Sonderparteitag in Bonn
29 Bilder

Bilder vom SPD-Sonderparteitag in Bonn

29 Bilder

Schon die Eröffnung durch die Parteivize Malu Dreyer gibt einen Vorgeschmack. Üblicherweise ist das eine leicht erweiterte Begrüßung. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin aber macht daraus die Parteitagsrede ihres Lebens. Sehr konzentriert listet sie die sozial­politischen Erfolge des Sondierungspapiers mit der Union auf und begründet damit ihren Aufruf für Groko-Verhandlungen. Sie könne den Bürgern im Fall von Neuwahlen nicht erklären, warum die SPD für Anliegen werbe, die sie in den Sondierungen schon umgesetzt habe, sagt sie. Das ist genau das Argument, das auch Nahles formuliert. „Leute, wir brauchen mehr Selbstbewusstsein“, ruft Dreyer aus.

Man merkt an der Reaktion im Saal, wie die Debatte ablaufen wird. Die Befürworter, darunter die Altvorderen in der ersten Reihe, Kurt Beck, Franz Müntefering, Hans Eichel und Rudolf Scharping, klatschen, aber eher verhalten. Die Gegner hingegen hören sich das nur stumm an. Die meisten der 600 Delegieren – 24 sind es aus dem Saarland – haben sich ihre Meinung schon vorher gebildet. Scharping geht später ebenfalls mit einem fulminanten Appell ans Rednerpult: „Hört auf mit dem Unsinn“, ruft er aus und verweist auf Frankreich und die Niederlande, wo die Sozialisten inzwischen marginalisiert sind.

Im Fünf-Minuten-Rhythmus an Redebeiträgen geht die Debatte weiter, über vier Stunden lang. Hilde Mattheis, Sprecherin der Parteilinken, und Niedersachsens Ministerpräsident Stefan Weil liefern sich unmittelbar hintereinander einen Schlagabtausch, der sehr typisch ist. Mattheis sagt, die SPD sei in den bisherigen großen Koalitionen „abgeschliffen worden von Kompromiss zu Kompromiss“. Weil hält dagegen: „Ich mache Politik nicht, damit es der SPD gut geht, sondern damit es den Menschen gut geht.“

Von Martin Schulz‘ Rede werde viel abhängen, hatte es vorher geheißen. Die Sitzungsleiterin ruft den Vorsitzenden mit der Bemerkung ans Pult, jeder wisse, welche Last heute auf seinen Schultern sitze. Schulz versucht die Delegierten mit der Perspektive eines selbstbewussteren Mitregierens zu locken. Dass die CDU Vereinbarungen nicht einhalte oder wie im Fall Glyphosat gar gegen den Koalitionspartner entscheide, das werde es nicht wieder geben. Nach zwei Jahren werde eine Zwischenbilanz der neuen großen Koalition gezogen. Und kurz vorher gebe es einen neuen SPD-Parteitag. Das zeige: „Die Partei, ihr hier im Saal, gebt die Richtung vor.“ Aber auch bei Schulz ist es wie bei Dreyer. Der Funke springt nicht recht über.

Sein Gegenspieler ist Kevin Kühnert, Vorsitzender der Jungsozialisten. Der 28-jährige Berliner beschäftigt sich gar nicht erst lange mit den „Spiegelstrichen“ des Sondierungsvertrages, wie er sagt. Darum gehe es nicht. Er greift an, dass sich die SPD „in einer Endlosschleife“ mit der Union und Kanzlerin Angela Merkel befinde, ohne je daraus gestärkt hervorzukommen. Am Ende zitiert Kühnert das böse Wort des CSU-Landesgruppenchefs Alexander Dobrindt vom „Zwergenaufstand“ und dreht es um. „Lieber heute ein Zwerg sein, und dafür morgen wieder groß herauskommen“, ruft er aus. Frenetischer Beifall im Saal und auf der Tribüne. Dort sitzen viele Juso-Anhänger mit roten Zipfelmützen, dem Kennzeichen der „No-Groko“-Kampagne. Vor dem Kongresszentrum in Bonn werden sie gratis verteilt. Im Rheinland ist Karneval, da mangelt es nicht an Nachschub. Nahles greift Kühnerts letzten Satz direkt auf. „Was ist denn groß?“, fragt sie brüllend. „Ich bin in dieser Partei, weil ich das Große immer auch in den kleinen Fortschritten für die Menschen gesehen habe.“ Darum werde jetzt mit der Union verhandelt, und zwar „bis es quietscht“. Jetzt klatschen auch die Groko-Befürworter engagierter.

 Heiko Maas plädierte für eine neue Groko. Später leitete der Saarländer die Abstimmung.

Heiko Maas plädierte für eine neue Groko. Später leitete der Saarländer die Abstimmung.

Foto: dpa/Federico Gambarini
Juso-Chef Kevin Kühnert blieb bei seinem strikten Nein zu Koalitionsverhandlungen.

Juso-Chef Kevin Kühnert blieb bei seinem strikten Nein zu Koalitionsverhandlungen.

Foto: dpa/Oliver Berg

Das Podium ist bei Parteitagen der SPD stets das eine. Das Hinterzimmer das andere. Noch in der Nacht zu Sonntag wird ein Kompromiss zwischen dem Vorstandsantrag und einem Vorstoß aus den besonders kritischen Landesverbänden Hessen und Nordrhein-Westfalen geschmiedet. Sie hatten zunächst weitere fundamentale Zugeständnisse der Union verlangt, bei der Bürgerversicherung, beim Familiennachzug für Flüchtlinge und bei der Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen. Das haben CDU und CSU jedoch im Vorfeld klar abgelehnt. Der in solchen Fällen schon oft gerufene Vorsitzende der Antragskommission, Olaf Scholz, findet die Formulierung, die schließlich mehrheitsfähig ist: Die Verhandlungskommission soll in den genannten Bereichen „konkret wirksame Verbesserungen“ erreichen. Und die sollen dann der Parteibasis zur Urabstimmung vorgelegt werden. Damit ist der weitere Weg zur Regierungsbildung zunächst einmal nicht verbaut. In Bonn sagen am Ende 362 Stimmen Ja. Die Verhandlungen gehen weiter. Das Zittern auch.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort