Wünschewagen Jessica will noch einmal Fische sehen

Nach der Diagnose war plötzlich alles anders. In Speyer hat sich eine Neunkircherin ihren letzten Wunsch erfüllt.

 Staunen über das Leben unter Wasser: Die 36-jährige Jessica beobachtet in ihrem Spezialstuhl das Treiben der Fische in den Sealife-Aquarien in Speyer.

Staunen über das Leben unter Wasser: Die 36-jährige Jessica beobachtet in ihrem Spezialstuhl das Treiben der Fische in den Sealife-Aquarien in Speyer.

Foto: Fatima Abbas

Jessica liebt Schildkröten. In allen Variationen. Ob als Stofftier, Haustier oder hellgrünes Tattoo auf ihrer Haut. Dort, wo auch ihre Familie einen Platz gefunden hat. Auf den gelähmten Arm hat sich Jessica die Namen ihrer beiden Töchter stechen lassen.

Jessica ist keine gewöhnliche Tattoo-Trägerin. Keine gewöhnliche Mutter von zwei Kindern. Jessica ist erst 36 – und unheilbar krank. Im April entdeckten die Ärzte bei ihr einen bösartigen Hirntumor. Ein Glioblastom. Sie will nicht verstehen, was diese zwölf Buchstaben bedeuten. Sie will nur leben. Und noch einmal Schildkröten sehen.

Dienstag, 10. Juli, 10 Uhr. Vor der Uniklinik in Homburg warten Jürgen, Petra und Anja. Jürgen vom Arbeiter-Samariter-Bund. Petra vom Fahrdienst für Behinderte. Anja, Pflegerin und ehrenamtliche Helferin. Sie stehen vor weißen Sternen auf blauem Hintergrund. Dem Motiv des Wünschewagens.

Heute, mit Jessica, ist er im Saarland zum 13. Mal unterwegs. Am 15. Februar erfüllte er den ersten letzten Wunsch. Sechs Tage später hat Jessica ihren 36. Geburtstag gefeiert. Sternzeichen Fische. Jessica will heute noch einmal nach ihnen greifen. Sie riechen. Sie in sich aufsaugen. Seesterne, Schollen und Quallen. Im Sealife in Speyer. Das ist ihr letzter Wunsch.

Dafür hat die Uniklinik einen roten Spezial-Rollstuhl spendiert. Petra hebt ihn in ihren Sprinter und tauft ihn „Ferrari“. Jürgen hilft. Jessica wartet. Auf der Station für Radio-Onkologie. Im 7. Stock. Dort liegt sie seit vier Wochen. Bis zu diesem Dienstag. Die Taschen sind schon gepackt. Jürgen, Petra und Anja schieben die Trage durch den Flur. 

Jessica grüßt und lächelt. Am Abend zuvor hatte sie noch geweint. Einer der Ärzte wollte dem Wünschewagen in letzter Sekunde absagen. Ohne Feuerwehr bekomme man Jessica nicht ins Schlafzimmer. Doch Jürgen lässt nicht locker. Er will es ihr nicht antun.

Weder ihr noch ihrer Tochter Selena. Noch ihrem Ehemann Pietro. Der schmächtige Mann mit den leuchtenden braunen Augen steht in der Tür und wartet. Er ist 42 Jahre alt. Daneben die 14-jährige Selena. Drei Schwestern hieven Jessica auf die Wünsche-Trage. Pietro, der Deutsch mit leichtem Akzent spricht, stammt aus Italien. 1995 kam er nach Deutschland, kurze Zeit später lernte er Jessica kennen.

Seit vier Wochen weicht er ihr nicht von der Seite. Besucht sie jeden Tag. Zwei OPs hat die junge Frau seit der Diagnose im April hinter sich. Eine Ende April, eine Mitte Mai. Seit der zweiten OP ist sie linksseitig gelähmt. „Wenn ich gesund bin, kaufe ich mir eine Schildkröte“, sagt Jessica. Immer wieder sagt die junge Frau Sätze, die mit „Nächstes Mal“ oder „Wenn ich wieder gesund bin“ beginnen.

Die Wünsche-Erfüller schieben sie erst Richtung Aufzug, dann ins Wageninnere. Pietro schnallt sich neben ihr an. Fast anderthalb Stunden Autofahrt von Homburg bis Speyer. Zu viel Zeit zum Nachdenken. Als der Wagen die Sealife-Einfahrt erreicht, wischt Pietro Jessica die Tränen von der Wange. „Warum weinst du? Im Sealife gibt es doch genug Wasser.“ Pietro legt die Hand auf Jessicas tätowierten Arm. Eigentlich wollten sie heute zu viert „Nemo besuchen gehen“, wie Pietro sagt. Doch für Selenas zehnjährige Schwester ist das mit dem letzten Wunsch zu viel. Sie setzt sich in einen anderen Wagen, mit ihrer besten Freundin und deren Eltern Richtung Garda-See. „Nächstes Mal“, sagt Jessica. Pietro streicht ihr übers Haar. „Hast extra die Haare schön gemacht.“ Er schaut wie ein verliebter Teenager und liebkost wie ein alter Mann. Jessica winkt ab: „Ach, das sagst du doch nur so.“ Dann fährt sie sich selbst durchs Haar. Immer wieder. So als wolle sie sie wegwischen, die etwa zehn Zentimeter lange Spur, die die Ärzte im Kampf um ihr Leben an ihrer rechten Schläfe hinterlassen haben.

Das Unterwasser-Leben bringt Jessica zurück. Bachsaiblinge und Flussbarsche umschwärmen sie im Halbdunkel. Jessica schweigt. Sealife-Besucher zwängen sich an ihrem Ferrari vorbei. Einige lächeln. Andere starren.

Pietro und Selena treiben in ihrer eigenen Welt. „Ich habe Hunger“, sagt Jessica. „Schon wieder? Hast doch erst gestern was gegessen“, antwortet Pietro. Auch Petra albert herum. Führt ihren „Turtle-Tanz“ auf. Streckt die Hände in die Höhe und sieht dabei aus wie ein zappelnder Marienkäfer, der aus Versehen auf den Rücken gefallen ist und wieder auf den Bauch will. Jessica lacht. Dann staunt sie minutenlang hinter gewölbtem Glas über die zwölf Jahre alte Riesen-Schildkröte Marti.

Im Sealife-Shop schenkt ihr Pietro ein grünes Band mit Schildkröten-Anhänger. Später in der Kantine bestellt sie sich ein Oreo-Küchlein. Pietro schneidet es in jessicagerechte Häppchen. „Seit 20 Jahren sind wir zusammen, seit elf Jahren verheiratet. Aber er wollte erst meine Schwester“, erzählt Jessica und nippt über Pietros stützenden Arm hinweg an ihrem Latte Macchiato.

Bäckereifachverkäuferin oder Schaufenster-Dekorateurin – das wollte sie einmal werden. Doch dann war da diese Mehlallergie. Und wer wird heutzutage noch Schaufen­ster-Dekorateur? Also hat sie nach dem Hauptschulabschluss bei Real, Aldi und im Schwimmbad gejobbt. Mit Ende 20 dann drei Jahre lang als Tagesmutter gearbeitet. Bis der Krebs ihre Pläne durchkreuzte. „Meine Arbeit ist jetzt meine Familie.“ Jessica küsst ihren Mann. Der schleicht sich danach mit Kamera und Selena kurz auf die Terrasse. Jetzt stehen Vater und Tochter eng beieinander und knipsen gen Himmel. Wirken dabei wie ihr eigenes Foto aus einer anderen Zeit. Jessica saugt es mit allen Kräften, die ihr noch bleiben, auf.

Wenige Minuten später steht der Ferrari in der Sonne. Neben Pietro und Selena. Die Helfer grübeln ein paar Meter weiter über den Sinn des Lebens. Für Jessica hat er sieben Buchstaben. Familie. Ihre beiden Töchter. Ihre sieben Geschwister. Ganz anders als Pietro. Er ist Einzelkind. „Ich habe sonst niemanden“, wird er später im Wünschewagen sagen.

Jessica will keine Schläuche und Krankenschwestern mehr sehen. Deshalb hat sich Pietro zwei Wochen Urlaub genommen. Der Pflegedienst schaut jetzt täglich vorbei. In die vertrauten vier Wände in Elversberg. „Mein Garten ist der einzige Ort, wo es mir richtig gut geht“, sagt die gebürtige Neunkircherin. Pietro nickt. „Können wir im Garten schlafen?“ Pietro schüttelt den Kopf.

Das ging vielleicht noch vor vier Jahren. Bevor die Ärzte einen gutartigen Hirntumor bei Jessica entdeckten. Sie hätten ihn nur zu 80 Prozent entfernen können, erzählt Pietro auf der Rückfahrt. Auch Jessica spricht. So viel, wie man nach drei Wochen Dauer-Bestrahlung und Chemo sprechen kann. Mehr als 20 Tabletten schluckt sie am Tag. Schmerzmittel. Chemo. Schmerzmittel. Chemo. „Ich bin dauermüde“, sagt Jessica in der Position, die ihr mittlerweile am vertrautesten ist.

Seit der ersten OP kann sie nicht mehr richtig gehen. Immer wieder hat sie Ausfälle, starke Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen. Ihr Italienisch hat sie vergessen. „Ich habe Angst vor der Zukunft. Ich möchte mich bei meiner Familie bedanken.“ Jessica starrt auf die weißen Sterne über ihr. Pietro hält ihren Arm. Die Fahrt ist kurvig. Jessica weint.

Der Wünschewagen macht einen Zwischenstopp. Petra und Jürgen bringen den Ferrari zurück. Selena springt aus Petras Sprinter in den Wünschewagen. „Können wir tauschen?“ Papa nickt. Es ist fast 19 Uhr. Selena sitzt bei ihrer Mutter. „Alles fit?“, fragt sie so, als sei Jessica die beste Freundin auf dem Schulhof. „Ja. Bei dir?“ „Ja.“ Dann versinkt sie in ihr i-Phone, tastet hin und wieder wie ferngesteuert nach ihrer Mutter. „Geht das so mit dem Arm?“ „Ja.“ Am linken Arm-Gelenk trägt Selena ein Halberg-Open-Air-Band. Es wirkt wie die festgezurrte Erinnerung an einen sorglosen Teenager-Tag.

Der Wagen parkt direkt vor der Haustür. Selena zeigt heimlich die Überraschung, die sie für Mama vorbereitet hat. Auf dem i-Phone erscheinen zwölf Muffins mit je einem Buchstaben: „Last Chemo Day“.

Ein Feuerwehr-Auto fährt vor, mehr als elf Mann bringen sich in Stellung. Die Drehleiter hebt Jessicas schweren Körper ans Fenster im ersten Stock. Passanten bleiben stehen und beobachten die Szene. Wie die Sealife-Besucher vor dem Schildkröten-Becken.

 Ehemann Pietro füttert seine Frau Jessica in der Sealife-Kantine mit Kartoffeln.

Ehemann Pietro füttert seine Frau Jessica in der Sealife-Kantine mit Kartoffeln.

Foto: Fatima Abbas
 Ohne ihn wäre der Ausflug nicht möglich gewesen: der Wünschewagen des Arbeiter-Samariter-Bundes.

Ohne ihn wäre der Ausflug nicht möglich gewesen: der Wünschewagen des Arbeiter-Samariter-Bundes.

Foto: Fatima Abbas
 Glibbrige Angelegenheit: Jessica bewundert Haifisch-Eier. Dahinter: die Helfer Petra und Jürgen.

Glibbrige Angelegenheit: Jessica bewundert Haifisch-Eier. Dahinter: die Helfer Petra und Jürgen.

Foto: Fatima Abbas
 Am Ende ging es nicht ohne Feuerwehr: Mit der Drehleiter wurde Jessica in ihr Schlafzimmer gehoben.

Am Ende ging es nicht ohne Feuerwehr: Mit der Drehleiter wurde Jessica in ihr Schlafzimmer gehoben.

Foto: Fatima Abbas

Pietro und Selena sind schon oben. Nehmen die schwebende Jessica in Empfang. An der Wand hängen ihre selbstgebastelten Werke. Überall blaue Schmetterlinge. Getrocknete Blumen in gelben Rahmen. „Genieße die kleinen Dinge“ steht auf einem Kleeblatt aus Holz. Liebeserklärungen an sich, ihre Mädchen und an Pietro. Jessicas Wangen sind wieder trocken. „Ich bin jetzt zu Hause“, sagt sie und nimmt Abschied. Von der Klinik, von der Chemo, von all den Schmerzen. Von den weißen Sternen auf dunklem Blau. Von Anja und Jürgen. Und schließlich von Petra, der sie am Ende noch etwas verspricht: „In einem halben Jahr mache ich mit dir den Turtle-Tanz.“

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