Wallfahrt der Roma in Lothringen Die eifrigen Gläubigen der Wohnwagen-Stadt

Grostenquin · In Lothringen kommt die fahrende Gemeinde zu einem evangelikalen Treffen zusammen. 30 000 Menschen versammeln sich dort.

Zwanzig Minuten vor dem Beginn des Gottesdienstes sind die Reihen im Zelt gut gefüllt. In den ersten Reihen sitzen vor allem Männer mit ihren Bibeln in einem schwarzen Lederschutzumschlag. Frauen mit Kleinkindern besetzen die hinteren Reihen, wo die Luft noch gut durchkommt und es nicht so heiß ist. Tausende von Menschen warten auf den ersten Programmpunkt des Tages. Es sind vor allem Roma, Manuschen und Yenischen. Eins haben sie alle gemeinsam: ihren Glauben. Einmal im Jahr treffen sich bis zu 30 000 Menschen bei der evangelikalen Versammlung des freikirchlichen Missionswerks „Vie et lumière“ (deutsch: Leben und Licht). Dieses Jahr, wie bereits 2015, findet das Treffen der Gläubigen auf der Militärbasis im lothringischen Grostenquin statt. Rund um das riesige blau-gelbe Zelt haben sich Familien aus ganz Frankreich mit ihren Wohnwagen niedergelassen. Diejenigen, deren Stellplätze weit vom Zelt entfernt sind, fahren mit dem Auto zum Gottesdienst, denn das Gelände ist mit 120 Hektar ziemlich groß. Kurz vor Beginn der Zeremonie ist der Weg komplett zugeparkt. Wer nur zu Gast ist, fühlt sich wie in einem Labyrinth. Neben einem eigenen Arzt, mehreren Imbiss-Wagen und einem Gasflaschenhandel verfügt das Camp über einen eigenen Ordnungsdienst. Samuel und sein Team weisen auf freie Parklücken hin und haben auch zahlreiche Baumstämme auf den Asphalt gelegt, um so Straßen zu bilden und zu verhindern, dass die Menschen zu schnell fahren. „Viele Kinder laufen hier frei rum. Wir müssen aufpassen“, sagt Samuel.

Überhaupt verwandelt sich diese sehr ländliche Ecke von Lothringen für eine Woche in eine richtige Auto-Stadt. Wo man sonst Traktoren auf der Landstraße überholt, sind es nun Wohnwagen. Auch die Gendarmen sind nicht zu übersehen. Die Lokalpolitiker hatten sich gegen das Treffen hier ausgesprochen, sie hatten Angst, dass es ausufert. Mit der erhöhten Polizei-Präsenz schickt der Staat ihnen eine Botschaft, wir sind da, wir schauen nach dem Rechten.

Drei Mal täglich treffen sich die Gläubigen im Zelt, zum Gottesdienst, den sie selbst „réunion“ (Versammlung) nennen. Zwischendurch gibt es Gesprächskreise oder Vorbereitungskurse auf die Taufen, die am Sonntag stattfinden. Jede Versammlung wird von einem anderen Pastor geleitet und beginnt mit Kirchenliedern. Als Erster tritt ein älterer Mann auf. Er fragt, wer ihn mit der Gitarre begleiten will, sofort springt ein junger Mann auf und legt los. Nach ihm kommen zwei Zwillingsschwestern, die a cappella singen. Danach Shana, eine Jugendliche, die in ihrem roten Satin-Kleid mit cremefarbenem Umhängetuch und ihrem auffälligen Make-up an eine Kandidatin für eine Fernsehshow erinnert. Einen Begleiter an der Gitarre braucht sie nicht. Sie steckt ihr Smartphone an den Lautsprecher und wählt die passende Hintergrundmusik. Textsicher, den Kopf nach oben gestreckt und die Augen zu, singt Shana mit glasklarer Stimme von Gott und seiner Gnade. Das ganze Zelt singt lautstark und leidenschaftlich mit, manche schließen auch die Augen, andere sind den Tränen nah. Nach dem Singen kommt die Predigt, heute von Tarzan. Es geht darum, dass wahre Gläubige die richtige Wahl in ihrem Leben treffen müssen. Wie sich Gott damals für sie entschied: „Wir waren die Abgestoßenen, die Verfolgten, dann kam Gott und machte aus unserem Volk die Auserwählten.“ Immer wieder gibt es laute Zwischenrufe „Gott sei Dank“, „Amen“, „Hallelujah“. Tarzan stört sich nicht daran. Sie gehören hier zur Versammlung dazu. Genauso wie die Erinnerungen zwischen verschiedenen Teilen der Predigt. „Brüder und Schwester, vergesset nicht, euch für unsere Wallfahrt im November nach Jerusalem anzumelden“. Oder der Appell eine CD mit Kirchenliedern zu kaufen, um die Finanzierung eines neuen Kirchengebäudes in Südfrankreich zu unterstützen.

Kurz vor zwölf ist die erste Versammlung des Tages durch. Der Andrang verlagert sich vor einem speziellen Wohnwagen: die „Bäckerei“. Singen und Beten machen eben hungrig. Und in Frankreich gehört das Baguette zum Mittagessen dazu.

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