Geschichte Wie der Freistaat Flaschenhals entstand

Kaub/Lorch · Ein Treppenwitz der Weltgeschichte: Durch eine politische Nachlässigkeit konnte vor 100 Jahren in einem kleinen Gebiet am Rhein ein eigener Freistaat gegründet werden.

 Der Winzer Peter Josef Bahles erklärt auf einer Landkarte die Entstehung des „Freistaats Flaschenhals“: Nach Ende des Ersten Weltkrieges blieb nach der Grenzziehung durch eine kartografische Ungenauigkeit ein kleiner Streifen zwischen Lorch und Kaub übrig, der weder von der französischen noch von der amerikanischen Besatzungsmacht verwaltet wurde.

Der Winzer Peter Josef Bahles erklärt auf einer Landkarte die Entstehung des „Freistaats Flaschenhals“: Nach Ende des Ersten Weltkrieges blieb nach der Grenzziehung durch eine kartografische Ungenauigkeit ein kleiner Streifen zwischen Lorch und Kaub übrig, der weder von der französischen noch von der amerikanischen Besatzungsmacht verwaltet wurde.

Foto: dpa/Thomas Frey

Eigenes Notgeld, eigene Telegrafenverbindung, eigene Fuhrwerkdienste: Vor 100 Jahren im Januar 1919 ist am Rhein eine skurrile Mini-Republik entstanden. Ihre eigentümliche Form mit einer Engstelle von nur 800 Metern nahe dem Rhein gibt ihr den Namen: Freistaat Flaschenhals. Hinzu kommt bei dem Territorium bei Lorch und Kaub an der heutigen Landesgrenze von Hessen und Rheinland-Pfalz ein zweites Jubiläum: Die kleine Initiative Freistaat Flaschenhals, die die Erinnerung an den Treppenwitz der Weltgeschichte wachhält, wird 2019 ein Vierteljahrhundert alt.

Ihr Präsident Peter Josef Bahles hat nach eigener Aussage gegen Gebühr schon 3600 Pässe ausgestellt, die wie Dokumente der Bundesrepublik aussehen und etwa Menüs in Gaststätten und Vergünstigungen bei Winzern bieten – aber ausdrücklich nichts mit „Reichsbürgern“ zu tun hätten. „Es gibt auch Weine mit unserem Etikett und Weinproben mit Erklärungen zum Freistaat Flaschenhals“, ergänzt der Winzer im Ruhestand.

Am 18. Mai will die siebenköpfige Initiative eine Jubiläums-Bahnfahrt mit einer Dampflok durch das Welterbe Oberes Mittelrheintal anbieten. Ebenfalls voraussichtlich im Mai soll ein wohl 196 Seiten dicker Comic-Roman zur Geschichte des seltsamen Territoriums erscheinen. Gezeichnet wird der Band laut dem Hamburger Carlsen Verlag von dem Beruser Bernd Kissel, geschrieben von Marco Wiersch, der Drehbücher für den ARD-„Tatort“ geliefert hat.

 Sogar eigene Geldscheine wurden für den Freistaat gedruckt. Heute sind sie begehrte Sammlerobjekte.

Sogar eigene Geldscheine wurden für den Freistaat gedruckt. Heute sind sie begehrte Sammlerobjekte.

Foto: dpa/Thomas Frey

Alles hat im Oktober 1918 beim Ausklang des Ersten Weltkrieges mit einer kartographischen Nachlässigkeit begonnen. Der Oberbefehlshaber der Armeen der Alliierten, Ferdinand Foch, zeichnet laut der Mainzer Politologin Stephanie Zibell am grünen Tisch jeweils einen rechtsrheinischen Halbkreis mit einem Radius von 30 Kilometern um die wichtigen Städte Köln, Koblenz und Mainz. Die linksrheinische Besetzung und jene rechtsrheinischen Brückenköpfe sollen nach der deutschen Niederlage im Krieg eine Wiederaufrüstung verhindern.

Bei der Grenzziehung zwischen Mainz und Koblenz bleibt ein kleiner Streifen bei Lorch und Koblenz übrig, der in den Taunus bis in den Raum Limburg reicht. „Das war Foch egal, er wollte Weltpolitik machen und sich nicht um dieses Klein-Klein kümmern“, erläutert Zibell, die mit Bahles ein Buch über den Freistaat geschrieben hat. „Foch hat das den Verantwortlichen vor Ort überlassen.“

Am 3. Januar 1919 genehmigt laut Zibell das damalige Oberpräsidium Kassel die Selbstverwaltung des kleinen Gebiets. Mancherorts ist zu lesen, dass am 10. Januar 1919 der Lorcher Bürgermeister Edmund Pnischeck (Zentrumspartei) den Freistaat ausgerufen habe. Einen Beleg für dieses Datum gibt es aber nach Zibells Worten nicht.

Rund 17 000 Menschen leben seinerzeit im Freistaat Flaschenhals. Staatsrechtlich bleibt er ein Teil Preußens – faktisch aber ist er von den Alliierten abgeriegelt. Sie blockieren die wenigen überregionalen Straßen wie die heutige Bundesstraße 42, Züge fahren ohne Halt durch die Mini-Republik und auch Rheinschiffe dürfen nicht anlegen. Die Not der Bevölkerung ist groß.

Schwarzhandel und Schmuggel blühen auf. Schiffe bringen im Schutz der Nacht Mehl, Zucker und andere Lebensmittel. Im Gegenzug nehmen die Besatzungen Wein und Schnaps aus der Weinregion Mittelrhein mit. Fuhrwerke karren die Ware durch Wald und Flur nach Limburg, den Brückenkopf des Freistaats Flaschenhals zum restlichen Deutschland. Von dort kommen auch andere Vorräte. In Rüdesheim wird einmal ein französischer Zug entführt, in den Freistaat gefahren und seine Ladung verteilt: Kohle zum Heizen für die Bevölkerung.

Der mit der Verwaltung beauftragte Lorcher Bürgermeister Pnischeck veranlasst die Herausgabe von eigenem Notgeld – so wie es auch in anderen Teilen Deutschlands geschieht. Scheine ersetzen die für Kriegszwecke eingeschmolzenen Münzen. „Heute sind die Scheine begehrte Sammlerobjekte“, sagt Buchautorin Zibell. Auf den Geldscheinen finden sich nach ihrer Auskunft Sprüche wie „In Lorch am Rhein, da klingt der Becher, denn Lorcher Wein ist Sorgenbrecher“ oder „Nirgends ist es schöner als in dem Freistaat Flaschenhals.“

Die Franzosen würden seinerzeit dem Mini-Territorium mit eigener Telegrafenleitung gerne ein Ende bereiten, aber das wollen die Amerikaner nicht. Der Mini-Freistaat gibt sich aufmüpfig. Eine der von Rathauschef Pnischeck überlieferten Anekdoten: Während die Franzosen nachts das Rheinufer bei Lorch und Kaub mit Scheinwerfern nach Schmugglern ableuchten, zeigen ihnen einheimische Jungen aus Protest ihren blanken Allerwertesten.

Die weitere alliierte Rheinland-Besetzung 1923 habe das Ende des Freistaats besiegelt, heißt es vielerorts. Auch heutige Schilder am Rhein tragen die Aufschrift „Historischer Freistaat Flaschenhals 1919-1923“. Die Politologin Zibell sagt: „Das ist Quatsch.“ Bei der Verwaltung des Territoriums sei bereits 1920 wieder deutsche Normalität eingekehrt. „Pro forma gab es den Freistaat Flaschenhals aber bis zum 30. Juni 1930, dem Ende der Rheinland-Besetzung.“

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