Otzwiller Auf den Spuren einer „Kriegsbeute“

Otzwiller · Wie eine deutsch-französische Kriegsgeschichte um einen gestohlenen Brief nach 79 Jahren endet.

 Der sogenannte „Beutebrief" mit Wehrmachtsvermerk: „Von Spähtruppunternehmen durch Hauptmann Hess mitgebracht. Herbst 1939."

Der sogenannte „Beutebrief" mit Wehrmachtsvermerk: „Von Spähtruppunternehmen durch Hauptmann Hess mitgebracht. Herbst 1939."

Foto: Christian H. Freitag

„Sitzkrieg“ nannten es die einen, „drôle de guerre“ die anderen: Zwar herrschte zwischen Deutschland und Frankreich seit Anfang September 1939 Kriegszustand, ungeachtet dessen verhielten sich aber beide Länder zunächst weitgehend passiv. Beiderseits der Grenze richtete man eine Kilometer breite Sperrzone ein, aus der die dort ansässige Bevölkerung ins Landesinnere evakuiert wurde. In diesem auf beiden Seiten verminten Niemandsland kam es zwar zu gelegentlichen Artillerieduellen und Feuergefechten, in der Regel jedoch hielt man sich bedeckt und versuchte, durch Spähtruppunternehmen die Stellungen und die Stärke des Gegners zu erkunden. So auch im Gebiet von Otzwiller, zwischen dem saarländischen Fürweiler (Ortsteil von Rehlingen-Siersburg) und dem lothringischen Schwerdorff gelegen, wo der Grenzverlauf besonders wirr und unübersichtlich war und ist.

In diesem Grenzabschnitt war die militärische Situation besonders knifflig. Dies wird gut sichtbar in der damals geheimen, hier abgebildeten Karte der französischen Armee, die die dortigen Befestigungslinien und Feldstellungen in den Jahren 1939/40 zeigt – unter anderem auch einige bei Fürweiler eingetragene „maison suspectes“, bei denen es sich wahrscheinlich um getarnte deutsche Unterstände gehandelt haben dürfte.

Wohl aus Fürweiler kommend drang im September 1939 ein Wehrmachtsspähtrupp nach Otzwiller vor, um die aktuelle Lage auszukundschaften. Als Ausbeute ihrer Erkundungstour brachten die Männer aus einem der Häuser dort einen Brief mit. Empfänger des Briefs: Monsieur Nicolas Magar. Auf dem Kuvert eine blaue 90-Centimes-Marke mit dem Motiv „Frau einen Friedenszweig haltend“ – was unter den gegebenen Kriegsumständen recht unpassend erscheinen musste. Entwertet am 29. August 1939 im nahen Thionville, der „Métropole du Fer“, wie es im Stempelzusatz heißt. Schließlich bekam der Beutebrief „ordnungsgemäß“ den „Eingangsvermerk“: „Von Spähtruppunternehmen durch Hauptmann Hess mitgebracht. Herbst 1939.“

Leider lässt sich heute nicht mehr sagen, welche vielleicht interessanten militärischen Informationen dieser Brief enthalten haben mag, denn der Inhalt ist verloren gegangen. Genauso ist unklar, auf welchen Wegen er später aus den Händen der Wehrmacht an einen Philateliehändler geriet, der dieses kuriose Stück „Kriegsbeute“ (wie er lakonisch auf der Schutzhülle vermerkte) Anfang 2018 auf einer Briefmarkenbörse am Bodensee zum Kauf anbot. Wie auch immer: Gesehen – gekauft!

Recherchen ergeben, dass nach wie vor Magars in Otzwiller ansässig sind – wenn auch kein Nicolas. Früher Nachmittag im Mai 2018, Otz­willer döst in der Sonne. An der Kapelle vorbei, die Dorfstraße hinauf. Links ein Bauernhaus mit der Inschrift „P. Schütz/M. Magar. 1886“ über dem Türsturz. Ein guter Anlass, hier zu läuten. Madame gibt freundlich Auskunft. Ja, im Dorf leben etliche Magars, und ja, im Krieg waren alle evakuiert. Die meisten in die Gegend von Vienne – „un voyage vers l‘inconnu“, eine Reise ins Unbekannte. Schrecklich habe es ausgesehen, als sie nach dem Krieg zurückkamen. Viele Häuser zerstört, nicht mehr bewohnbar, ausgeplündert und verdreckt. Nein, der Nicolas lebe nicht mehr, aber zwei Häuser weiter wohne noch ein Nachfahre: Denis Magar. Merci bien, Madame.

Minuten später entwickelt sich mit Denis eins dieser freundlichen Gespräche, die besonders auf dem Lande und auf der Grundlage gegenseitiger Neugier so gern geführt werden. Der alte Nicolas, so erzählt er, war Landwirt, kam verletzt aus dem Ersten Weltkrieg heim, starb in den 1960er Jahren. Denis kennt viele Kriegsgeschichten, wie ihm sein Vater sie erzählte. Zum Beispiel die, als 1945 zum bösen Schluss des Krieges deutsche Truppen sich bei Otzwiller verschanzten und amerikanische Kanonen den Ort von einem Hügel bei Schwerdorff aus beschossen. Das gab vielen Häusern den Rest, ein ganzer Bauernhof am Ortsrand sank in Schutt und Asche – da oben, wo jetzt der Neuhof steht. Eine liebenswerte Einladung zum Kaffee folgt.

 Der Autor Christian H. Freitag (l.) aus Hohenfels am Bodensee bringt Denis Magar den „Beutebrief“ als Großkopie zurück nach Otzwiller.

Der Autor Christian H. Freitag (l.) aus Hohenfels am Bodensee bringt Denis Magar den „Beutebrief“ als Großkopie zurück nach Otzwiller.

Foto: Christian Freitag
 Eine „geheime“ französische Militärkarte von 1939/40 zeigt Befestigungslinien und Feldstellungen im Raum Otzwiller.

Eine „geheime“ französische Militärkarte von 1939/40 zeigt Befestigungslinien und Feldstellungen im Raum Otzwiller.

Foto: Christian Freitag

Später geht’s dann zurück ins Saarland: vorbei am Friedhof von Schwerdorff, wo Nicolas zur letzten Ruhe liegt, weiter über die „Pont de l‘Amitié“, die Brücke der Freundschaft, nach Fürweiler, hinunter dann ins Tal der Saar. Au revoir, Otz­willer, tout le meilleur!

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