Gabriele Clemens „Die Menschen haben sich bestraft gefühlt“

Saarbrücken · Nach Aussage der Historikerin von der Saar-Uni lehnte nach 1919 eine Mehrheit der Bevölkerung im Saargebiet die Loslösung vom Deutschen Reich ab.

 Historikerin Gabriele Clemens lehrt Landesgeschichte an der Universität des Saarlandes.

Historikerin Gabriele Clemens lehrt Landesgeschichte an der Universität des Saarlandes.

Foto: YAPH

Als Wiedergutmachung für die Zerstörungen im Ersten Weltkrieg durften die Franzosen nach 1919 die Kohlegruben an der Saar ausbeuten. Im SZ-Interview schildert Prof. Gabriele Clemens, die Neuere Geschichte und Landesgeschichte an der Universität des Saarlandes lehrt, wie die Menschen im Saargebiet auf die Abtrennung von Deutschland reagierten.

Frau Clemens, von wem stammte vor 100 Jahren eigentlich die Idee, aus vormals preußischen und bayerischen Gebieten ein Stück herauszuschneiden und daraus das Saargebiet zu bilden?

CLEMENS Federführend war Frankreichs Ministerpräsident Georges Clemenceau. Er wollte in Versailles Wiedergutmachung für das, was Frankreich angetan wurde. Der Krieg hatte ja auf französischem Boden stattgefunden, nicht auf deutschem. 1,3 Millionen französische Soldaten waren gefallen, ganze Landschaften verwüstet worden.

Man wollte also vor allem die Kohlegruben ausbeuten?

CLEMENS Also eigentlich wollten die Franzosen sogar das gesamte deutsche Gebiet bis zum Rhein annektieren. Darauf weisen schon Unterlagen aus dem November 1918 hin. Dieses Ziel einer deutsch-französischen Rheingrenze gab es schon seit Jahrhunderten. Doch dagegen hat sich US-Präsident Woodrow Wilson gesperrt. Also hat man nach zähen Verhandlungen zwischen Franzosen, Briten und Amerikanern den Kompromiss gefunden, dass man ein neu zu schaffendes Saargebiet für 15 Jahre zur wirtschaftlichen Ausbeutung an Frankreich gibt.

Gab es in diesem Gebiet bis dahin schon so etwas wie ein regionales Zusammengehörigkeitsgefühl?

CLEMENS Nein. Bis zur napoleonischen Zeit war das Gebiet in verschiedene Territorien aufgeteilt. In revolutionärer und napoleonischer Zeit gehörte das spätere Saargebiet für kurze Zeit zu verschiedenen französischen Departements. Nach dem Wiener Kongress 1814/15 ging der größte Teil an Preußen und ein kleinerer an Bayern. Das heißt: Das Saarland beziehungsweise das Saargebiet als Region und politisches Konstrukt ist erst mit dem Versailler Vertrag entstanden. Bis dahin haben sich die Menschen vor allem eher als Rheinländer oder Pfälzer verstanden.

Nach welchen Kriterien hat man das Gebiet 1919 zusammengeschnitten?

CLEMENS Man wollte die Gruben, die Hütten und die Arbeiter einbeziehen. Von denen sind viele eingependelt. Also hat man geschaut, wo sie wohnen. Viele Gruben-Arbeiter kamen zum Beispiel aus dem Hochwald. Dort hat man dann die Grenze gezogen.

Wie fanden denn die Menschen im Saargebiet die vorläufige Abtrennung vom Deutschen Reich?

CLEMENS Die Mehrheit hat das komplett abgelehnt. Man hat sich bestraft gefühlt. Sie dürfen nicht vergessen, dass man zuvor einen erbitterten vierjährigen Krieg gegen den Erbfeind Frankreich geführt hat. Es gab damals einen Nationalismus und Chauvinismus, wie wir ihn uns heute nicht mehr vorstellen möchten. Die Besatzungsherrschaft der Franzosen empfanden die Menschen im Saargebiet gerade in den ersten Jahren als Demütigung.

Und wie ging es den Menschen materiell im Vergleich zu denen im Deutschen Reich?

CLEMENS In dem Moment, als klar wurde, dass das Saargebiet von den Franzosen kontrolliert werden würde, gab es Lebensmittellieferungen. Die Deutschen haben im Krieg gehungert und gelitten. Da gab es im Saargebiet etwas früher eine Erleichterung. Aber trotzdem waren die ersten Monate und Jahre nach dem Krieg durch schwierige Lebensverhältnisse gekennzeichnet.

Und wie hat sich das dann im Laufe dieser 15 Jahre entwickelt?

CLEMENS Wie im Deutschen Reich hat sich die Lage auch im Saargebiet verbessert. Doch der Grundkonflikt blieb bestehen: Die Franzosen hatten damals eine Herr-im-Hause-Mentalität von oben herab. Und sie waren ja auch Arbeitgeber von 70 000 Bergarbeitern. Es gab Spannungen, und es wurde jede Gelegenheit genutzt, um die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich zu demonstrieren.

Wie sah das politische Konstrukt des Saargebiets genau aus?

CLEMENS Der Völkerbund hat treuhänderisch eine internationale Regierungskommission aufgestellt, die aus fünf Personen bestanden hat: ein Franzose, ein Nicht-Franzose aus dem Saargebiet und drei aus anderen Ländern.

Hat das funktioniert?

CLEMENS Problematisch war der erste Präsident der Regierungskommission, der Franzose Victor Rault. Er war besonders hierarchisch eingestellt. Es stellte sich später heraus, dass er Direktiven aus Paris erhalten hat. Auf jeden Fall hat er alles getan, um die französischen Forderungen durchzusetzen. Nachdem er 1926 abgelöst wurde, lief es besser: Ab dann besetzten Kanadier und Briten den Posten. Da waren die Konflikte dann nicht mehr ganz so groß.

Wie lange hat es denn gedauert, bis sich diese heute sehr starke saarländische Identität herausgebildet hat?

CLEMENS Sie entwickelte sich durch diese zweimalige Abtrennung von Deutschland zwischen 1920 und 1935 und dann wieder zwischen 1945 und 1955.

Also haben die Menschen auch in den ersten 15 Jahren der Abtrennung schon begonnen, sich als Saarländer zu sehen?

CLEMENS Ja, sie sahen sich im Laufe dieser Jahre als Deutsche und auch als Saarländer.

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