Saarlandmuseum I Übersetzer der Bildhauerei der Natur

Saarbrücken · Das Saarlandmuseum zeigt die naturphilosophische Kunst des Arte-Povera-Meisters Giuseppe Penone.

 Penones weit ausgreifende Rauminstallation „Corteccia“ von 1983, die erstmals in Deutschland zu sehen ist.

Penones weit ausgreifende Rauminstallation „Corteccia“ von 1983, die erstmals in Deutschland zu sehen ist.

Foto: Christoph Schreiner

„Alles, was wir berühren, hinterlässt Spuren“, sagt Giuseppe Penone. Nichts bleibt folgenlos. So relativ diese Folgen auch sein mögen. Wobei es gerade die unmerklichen Metamorphosen sind, die den italienischen Arte-Povera-Künstler interessieren. Speziell das, was er dabei die untergründigen „Äquivalenzen zwischen dem Menschen und den Dingen“ nennt. Schon in einer seiner ersten Arbeiten schrieb er in den 1960er Jahren die Wirkung einer Baumum­armung von eigener Hand dadurch fort, dass er die Berührungspunkte am Stamm mit einem Draht nachzeichnete, den sich der Baum dann im Lauf der Jahre einverleibte, sofern er nicht um ihn herum weiterwuchs.

Im Atrium des Saarlandmuseums stand Penone gestern unter 20 industriell zugeschnittenen, bis zu neun Meter langen Tannenbalken, die er wieder zum Leben erweckt hat, indem er die darin verborgene Baumstruktur offenlegte. So dass man nun in einem Teilstück der von der Decke herunterhängenden, bis zu 400 Kilo schweren Balken wieder die konservierte Grundform des Baums samt seiner diversen Verästelungen ausmachen kann – und damit den natürlichen Kern, die Handschrift des Baumes aus dem Balken herauslesen kann, den Penone nicht von ungefähr als prozessuale Skulptur begreift. Weil dieses Herausschälen seiner ursprünglichen Wuchsform aus dem wuchtigen Kantholz einer Materialisation der Zeit selbst gleichkommt. Ist das, was wir nun sehen, doch der Baum zu einer früheren Zeit. Mit etwas Phantasie und Pathos gesprochen, gleicht Penones 20-teilige Werkgruppe „Ripere il bosco“ mithin einem Jahrzehnte zurückreichenden Blick auf eine Art Waldlichtung.

Immer wieder hat Giuseppe Penone in seinem künstlerischen Schaffen letztlich der Natur die Rolle des Bildhauers überlassen. In „Fluss sein“ (ab 1981) ließ sich Penone etwa von einem Stein, den er in einem Flussbett fand, leiten: An dem Berg, aus dessen Steinbruch der Stein stammte, suchte er einen zweiten und bearbeitete ihn so lange, bis er wie ein Zwilling des Flussfindlings aussah. In Penones Logik hieß dies, als Bildhauer die Aktivitäten des Flusses (Fließen, Reibung, Stöße, Erosion) nachzuvollziehen. Ganz ähnlich verhält es sich bei seinem bekanntesten Projekt „Alberi“ („Bäume“), das Penone seit 50 Jahren in immer neuen Variationen verfolgt.

Alle „Alberi“-Variationen basieren auf derselben Grundidee: Indem Penone die Wachstumsringe behutsam entfernt und nach und nach den im Balken verborgenen Baumstamm samt dessen Astverläufen wieder freilegt, enthüllt er dessen Jahrzehnte zurückliegende, ursprüngliche Gestalt. Der Baum wird somit zu einer lebenden Skulptur. „Für Penone entspricht das der Rolle des Künstlers, der seiner Auffassung nach nicht Formen erfinden, sondern auf einen geistigen Raum, auf eine physische Form oder auf eine unbeachtete Vorstellung hinweisen soll, um Dinge zu zeigen, die schon immer existiert haben“, fasste die Kunsthistorikerin Annalisa Rimmaudo vor Jahren Penones Philosophie als Bildhauer treffend zusammen. Betreibt der 72-jährige Arte-Povera-Künstler doch eine Art beständige Naturübersetzung.

Nicht alle im Saarlandmuseum versammelten Arbeiten Penones haben jene naturmagische Kraft, die etwa von „Ripere il bosco“ ausgeht. Im gleichen Saal fällt etwa eine Penones Werkgruppe „Respirare l’ombra“ zuzuordnende Arbeit ab, die eine Art bronzenen Lorbeermantel zeigt, aus dem eine goldene Lunge heraussticht. Das Permeabilitätsprinzip vieler Penone-Arbeiten gerät, so gülden, wie hier das Eindringen des Vegetativen in den menschlichen Körper symbolisiert wird, allzu plakativ. Mehr Magie entfachen drei nebenstehende filigrane, scheinbar ausschreitende Raumskulpturen aus Bronze – Abgüsse von Ästen und diesen mimikryhaft bis zum Verwechseln ähnlich. Wobei allerdings irritiert, dass Penone die Ast­enden jeweils auf einem aufgesetzten Blatt auslaufen lässt. Den Parcours in Saal 2 beendet vor dem großen Panoramafenster, das den Blick auf das frische Blattlaub der auf dem Museumsvorplatz wachsenden Eiche freigibt, eine Bodenarbeit aus Buchsbaumlaub, in der sich Penones Körpersilhouette (sowie neben seinem Kopf eine aus Penones Atem gewonnene Mulde) als Abdruck abzeichnen. Hier am Fenster vor Penones Atemvergegenwärtigung stehend, wird man gewahr, wie Innen und Außen auf doppelte Weise korrespondieren. Ganz so, als atme der Saal selbst ins Freie aus und ein.

Herzstück von Saal 1 ist Penones von 1983 datierende Skulptur „Corteccia“, die erstmals in Deutschland gezeigt wird. Um nicht das Missverständnis zu schüren, die Arbeit stehe fälschlicherweise in Zusammenhang mit der Renaissance der figurativen Skulptur Mitte der 80er Jahre, ließ sie Penone lieber jahrzehntelang im Depot. Auf einem Sockel zeigt sie eine Terracotta-Kinderbüste (Penones Sohn darstellend), die umrankt ist von den aufgebrochenen Scherben ihrer Negativform. Einen zweiten Kreis formen echogleich identische Scherbenformen als gewaltige Bronzestücke auf dem Boden. Die Skulptur, der Kinderkopf, diffundiert wie eine aufbrechende Schale mithin in konzentrischen Kreisen in den Raum hinein.

Penones Konzeptkunst wird maßgeblich von der hohen Materialität seiner Werke genährt. Drei seiner Marmorbildnisse in Saal 1 lösen dies mustergültig ein. Das durchscheinende Aderwerk des Carraramarmors erzählt von der anthropomorphen Kraft des Steins, während seine Bruchkanten einer vollendeten Naturmalerei gleichen – wie so oft belässt es Penone auch hier dabei, der Mittler und Erzähler organischer Geschichten zu sein. Zwei große Wandarbeiten rücken zuletzt sein künstlerisches Sensorium in überdimensionaler Vergrößerung in den Fokus: hier Penones aus Abertausenden Akazien­dornen geformte Stirn zeigend, dort seine dornenpunktierten, geschlossenen Augenlider. Je geballter die Dornen, umso ausgeprägter die Berührung. Vordergründig ein zündendes Bild für die Bipolarität von Zuwendung und Abweisung. Wobei die Dornen für Penone eher die Nervenenden in unserer Haut versinnbildlichen. Ist für ihn doch das Berühren die fundamentalste und reinste Form der Welterfassung.

  Blick auf Giuseppe Penones 20-teilige Werkgruppe „Ripetere il bosco“ im Atrium des Erweiterungsbaus der Modernen Galerie. Im Vordergrund ist eine seiner bronzenen Skulpturen zu sehen, Bronze-Abguss mehrerer Äste. 

Blick auf Giuseppe Penones 20-teilige Werkgruppe „Ripetere il bosco“ im Atrium des Erweiterungsbaus der Modernen Galerie. Im Vordergrund ist eine seiner bronzenen Skulpturen zu sehen, Bronze-Abguss mehrerer Äste. 

Foto: Oliver Dietze/Saarlandmuseum/Oliver Dietze

Eröffnung heute Abend um 19 Uhr.

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