Interview Klaus Hurrelmann „Die jüngere Generation könnte aktiver sein“

Saarbrücken · Deutschlands führender Jugendforscher spricht über Generationen-Ungerechtigkeit, die Überalterung von Parteien und die Rolle der Jugend.

Am Sonntag ist Bundestagswahl. Die junge Generation wird die Wahl nicht entscheiden können – ihr Stimmenanteil ist zu gering. Entwickelt sich Deutschland allmählich zur Altenrepublik? Deutschlands bekanntester Jugendforscher Klaus Hurrelmann (73), inzwischen selbst Seniorprofessor an der Berliner Hertie School of Governance, betreut seit vielen Jahren federführend die Shell-Jugendstudie. Im SZ-Interview spricht er über die Überalterung der Parteien, über eine mögliche Reform des Wahlrechts und über die Frage, wie politisch die junge Generation heute überhaupt ist.

Bei dieser Bundestagswahl werden die Über-60-Jährigen erstmals die größte Wählergruppe stellen. Prozentual liegt ihr Stimmenanteil bei mehr als 36 Prozent. Die junge Generation kann diese Wahl nicht gewinnen. Die Generation unter 30 stellt nur 15 Prozent der Stimmberechtigten. Was heißt das für die deutsche Gesellschaft? Wird die junge Generation im Zeichen einer Gerontokratie untergebuttert?

HURRELMANN Ex-Bundespräsident Roman Herzog hat schon vor Jahren davon gesprochen, dass wir auf dem Weg zu einer „Rentnerdemokratie“ seien. Er hat seinerzeit schon dieses Menetekel, von dem Sie sprechen, an die Wand gemalt. Die über 60-Jährigen, die in der Tat die größte Wählergruppe stellen, setzen demnach bei einer Wahl andere Akzente als Jüngere. Tatsächlich stellt sich die Politik darauf ein und berücksichtigt erkennbar die Bedürfnisse und Themen der Rentner, die nicht unbedingt die der jüngeren Generation sind.

Diejenigen, die am längsten leben müssen mit getroffenen politischen Entscheidungen, haben die geringste Einflussmöglichkeit. Umgekehrt entscheiden Rentner über längerfristige Entwicklungen, die sie oftmals nicht mehr erleben werden: vom Klimawandel über die Zukunft der EU bis zu Infrastrukturmaßnahmen. Ist das nicht ein Grund-Paradox unserer Demokratie heute?

HURRELMANN Ja. Uns ist ja allen noch die Abstimmung in Großbritannien in Erinnerung, wo man gesehen hat, wie sich so etwas auswirken kann. Dass also die ältere Generation das alte, gefestigte Großbritannien wieder haben wollte und deshalb für den Brexit gestimmt hat, während für die jüngere Generation dort die Vorteile der Internationalität und damit der Verbleib in der EU vorrangig waren. Die Brexit-Entscheidung hat gezeigt, wie sehr Politik nach der jeweiligen generationalen Erfahrung ausgerichtet sein kann. Das gehört aber nun mal zur Demokratie dazu. Ich sehe insgesamt in der Alterszusammensetzung der Wählerschaft kein Problem.

Wenn man sich das Wahlverhalten der jüngeren Generation bei den jüngsten Schlüsselwahlen ansieht – dem Brexit-Austritt der Briten und der Trump-Wahl – zeigt sich: 75 Prozent der Jungen in Großbritannien waren für den Verbleib in der EU. In den USA votierte über die Hälfte der Unter-40-Jährigen gegen Trump, bei den 18- bis 24-Jährigen war das Verhältnis 55:32 (13 Prozent machten keine Angaben). Mit anderen Worten: Die ältere Generation entscheidet, wer an die Macht kommt. Mit Blick auf Deutschland hat ein Politikforscher unlängst vorgerechnet, dass eine Partei, die alle Stimmen der unter 21-Jährigen erhielte, an der Fünfprozentklausel scheitern würde. Was folgt daraus?

HURRELMANN Sollen wir zu radikalen Maßnahmen greifen und die Wahlstimmen zugunsten der Jüngeren gewichten, um so für einen Generationenausgleich zu sorgen? Diskutiert wird auch ein Elternwahlrecht, dass diese diese stellvertretend für ihre Kinder wahrnehmen könnten. Immer wieder ins Feld geführt wird auch die radikale Absenkung des Wahlalters. Manche bringen umgekehrt auch eine Begrenzung nach oben ins Spiel. Alle diese Vorschläge sind im Grunde unrealistisch – einzig die Absenkung des Wahlalters und das Elternwahlrecht scheinen mir diskutabel. Unterm Strich aber müssen wir konzedieren, dass der heutige Wahlprozess die Zusammensetzung der Bevölkerung spiegelt. Auch könnte die jüngere Generation viel aktiver sein, als sie es heute ist. Warum gab es denn etwa im Vorfeld des Brexits keine Kampagnen und Demos für den Verbleib der Briten in der EU? Auch hat man sich dort an der Abstimmung prozentual nur unzureichend beteiligt. Insoweit sollte man die jüngere Generation auch bei uns dazu auffordern, ihre Distanz gegenüber dem Wahlakt aufzugeben. Wer nicht zur Wahl geht, schwächt die Position der Jüngeren nur noch weiter.

Die Generationen-Ungerechtigkeit aber wird dennoch fortbestehen. Sie haben einige kontroverse Möglichkeiten erwähnt, diese wahlrechtlich zu korrigieren. Hat etwa der Vorschlag eines Familienwahlrechts nicht eine gewisse Plausibilität? Dadurch könnten die Belange von Kindern mehr Gewicht bekommen. Was halten Sie von einem solchen Modell?

HURRELMANN Ich finde ihn diskutabel, weil sich Kinder so indirekt beteiligen könnten. Aber in diesem Indirekten liegt gleichzeitig das große Problem. Wie wollten wir bei Kindern sicherstellen, dass das Votum der Eltern tatsächlich in ihrem Sinne ist? Und welcher Elternteil würde am Ende zum Sprachrohr der Kinder? Da stellen sich eine ganze Reihe kniffliger Probleme. Ich glaube, dass es sinnvoller wäre, das Mindestalter so weit wie möglich abzusenken. Ich habe das schon in den 90er Jahren auf der Basis von Studien vorgeschlagen, die zeigten, dass durchaus ein politisches Interesse unter Jüngeren vorhanden ist. Damals war das noch ein Tabuthema. Ich kann mir vorstellen, dass wir eines Tages durchaus ein Wahlalter von zwölf Jahren haben werden.

Würden Sie dieses Wahlrecht für Jugendliche für alle Wahlen propagieren?

HURRELMANN Ja, es müsste für alle Gebietskörperschaften gelten, von der Kommune bis zum Europa-Wahlrecht. Man wird jungen Leuten nicht gerecht, wenn man ihnen nur eine Wahlentscheidung auf kommunaler Ebene einräumen würde. Viele Studien zeigen, dass Jugendliche an den großen ethisch-moralischen, politischen Themen interessiert sind – Krieg, Frieden, Gerechtigkeit, Umweltschutz, Klimawandel.

In Deutschland stellen Vertreter der Babyboomer-Generation fast überall die Regierungen. Wirkt sich das auf die Dynamik der Gesellschaft aus? Ist das Wahren des Status quo wichtiger als Veränderung?

HURRELMANN Ja, ich glaube, dass hier das eigentliche Problem liegt: Dass die Machtzentren, in denen die wesentlichen politischen Entscheidungen getroffen werden, so stark in der Hand der über 50-Jährigen sind. Die Mitglieder der Parteien sind in Deutschland im Durchschnitt 60 Jahre alt. Geführt werden diese Parteien von Repräsentanten der Babyboomer-Generation der heute 45- bis 60-Jährigen. Die beherrschen seit Jahrzehnten das politische Geschäft. Wenn ich als junger Mensch in eine Partei komme, dann trete ich gewissermaßen einem Altenclub bei. Das erklärt auch die Nachwuchsprobleme in vielen Parteien – auch wenn wir in jüngster Zeit durch Trump und den Brexit eine stärkere Politisierung und auch mehr Parteieintritte verzeichnet haben. Das Generationenloch aber bleibt doch: Die jüngeren Generationen sind kaum vertreten in heutigen Parteien.

Welche Möglichkeiten sehen Sie denn, diese verkrustete Parteienlandschaft aufzubrechen?

HURRELMANN Man sollte eine freiwillige Jugendquote analog der Frauenquote einführen. Sprich: Bei der Aufstellung von Kandidaten müssten 25 Prozent unter 30 Jahre sein. Sinnvoll wäre es auch, die Parteifinanzierung umzustellen und Parteien einen Bonus einzuräumen, die eine solche Jugendquote einführen. Wir müssen die Kluft zwischen den Babyboomern, die die Parteien beherrschen, und den jüngeren Generationen überwinden.

Man könnte auch versucht sein, eine Nicht-Akademiker-Quote einzuführen. 80 Prozent der Bundestagsabgeordneten sind Akademiker. Vor dem Hintergrund, dass die Schere zwischen Arm und Reich in der deutschen Wohlstandsgesellschaft auseinandergeht, ließe sich fordern, die soziografische Struktur auf Volksvertreterebene stärker zu spiegeln. Was halten Sie davon?

HURRELMANN Die Shell-Jugendstudie zeigt, dass unter den Jüngeren fast 20 Prozent sich sozial abgehängt fühlen. Unter diesen Jugendlichen ist die Demokratie-Skepsis besonders groß. Nicht zuletzt deshalb, weil sie sich nicht repräsentiert fühlen, beteiligen sie sich nicht an den Wahlen – da gibt es einen ganz engen Zusammenhang. Sie haben völlig Recht: Man muss darüber nachdenken, wie die Repräsentativität verschiedener Bevölkerungsgruppen stärker gewährleistet werden kann.

Erstmals haben die für die letzte, im Herbst 2015 publizierte, 17. Shell-Jugendstudie befragten Jugendlichen ihre Zukunft überwiegend positiv beurteilt. Der Wert lag bei 62 Prozent. Der ökonomische und bildungsmäßige Hintergrund der Befragten spielte dabei allerdings eine maßgebliche Rolle. Es sind vor allem jene, die in gesicherten Verhältnissen leben, die ihre Zukunft positiv betrachten. Entscheidet maßgeblich also das eigene soziale Umfeld über die Bewertung der eigenen Perspektiven?

HURRELMANN Seit langer Zeit sehen wir in dieser jüngsten Studie erstmals wieder einen Zusammenhang zwischen der Einschätzung der persönlichen Zukunft und der Beurteilung der Zukunft des Landes. Bisher waren die Leute eher gespalten: Man dachte, schon irgendwie selbst durchzukommen, beurteilte die allgemeine Zukunftslage aber eher skeptisch. Das hat sich nun verändert. Dennoch sehen immer noch fast 20 Prozent der Jüngeren für sich selbst heute keine richtige Zukunft. Sie betrachten sich als Verlierer der Modernisierung. Da besteht begründetermaßen die Gefahr, dass diese Jugendlichen anfällig werden für radikale Parteien und rechtspopulistische Strömungen.

Es gibt noch ein interessantes Phänomen in der jüngsten Shell-Jugendstudie: die von Ihnen festgestellte Politisierung der 12- bis 14-Jährigen. 2002 interessierten sich demnach 30 Prozent dieser Jugendlichen für Politik, heute 41 Prozent. Gleichwohl zeigen nicht wenige Jüngere das, was man Politikverdrossenheit nennt. Weil sie sich nicht repräsentiert fühlen durch die Parteien. Sehen Sie da einen gewissen Widerspruch?

HURRELMANN Ja. Es ist leider genau so, wie Sie es beschreiben. Auf der einen Seite sehen wir ein größeres politisches Interesse bei den Jüngeren, weil viele nicht mehr das Gefühl haben, dass sie um einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zittern müssen. Das macht den Kopf wieder frei, sodass man sich eher für gesellschaftliche Themen öffnet. Das war vor fünf, sechs Jahren noch ganz anders und hat sie damals sehr politikfern sein lassen. Auf der anderen Seite muss man sagen, dass dieses wieder erwachte, stärkere politische Interesse bis dato an den Parteien noch weitgehend vorbeigeht. Sie sind der jüngeren Generation zu bürokratisch, zu apparathaft und zu alt.

2013, bei der vorigen Bundestagswahl, war die Wahlbeteiligung bei den 20- bis 25-Jährigen die geringste aller Altersgruppen. Wird das diesmal genauso sein?

HURRELMANN Das dürfte diesmal ähnlich sein. Damit sich dies wirklich ändert, müsste diese Wahl mehr Spannung haben. Sodass junge Leute das Gefühl haben, dass es auf ihre Stimme ankommt. Das ist nicht der Fall. Die Mehrheit für die jetzige Regierungschefin ist ziemlich zementiert, eine echte Alternative nicht wirklich sichtbar. Im Übrigen: Die hohe Wahlbeteiligung bei den deutlich Älteren kommt zum Teil ja auch aus einer Art Pflichtgefühl heraus. Weil man das in einem demokratischen Staat eben so macht. Die jungen Leute hingegen gehen zur Wahl, wenn sie das Gefühl haben, dass es sich lohnt.

Wären Volksentscheide wie in der Schweiz ein Modell, um die Attraktivität der Demokratie für kommende Generationen zu stärken?

HURRELMANN Ja, sicher. Die jungen Leute heute sind digital groß geworden und schnelle Entscheidungen gewohnt.

Sie haben die Generation Z, die nach 2000 Geborenen, eine „experimentierfreudige und entspannte Generation“ genannt, für die keine weltweite ökonomische Krise in Sicht sei. Anders als die Generation Y (die zwischen 1985 und 2000 Geborenen), die sehr mit der Optimierung von Lebensläufen beschäftigt gewesen sei, komme die neue Generation ohne deren Bildungsdruck aus. Gilt das noch so?

HURRELMANN Ja, weil sich die Situation am Arbeitsmarkt grundlegend verändert hat. Die meisten heute wissen, dass sie eine Chance haben werden und ihnen die Digitalisierung in die Hände spielt. Ganz aktuelle Studien zeigen, dass da eine ziemliche Unbefangenheit und Entspanntheit herrscht. Kombiniert ist das, wie erwähnt, mit einem neuen politischen Interesse. Weshalb die spannende Frage sein wird, ob diese Generation nun bald auch die Parteien umkrempeln und die Disruptivität des Digitalen damit auch in unser politisches System einführen wird. In den Betrieben und Unternehmen ist dieser Unruhegeist bereits zu spüren. Dort beginnt die junge Generation bereits, Dinge neu und anders umzusetzen. Letztlich müssen wir hoffen, dass diese Generation Z auch politisch anpackt und die Generationenbrücke herstellt. Umgekehrt ist zu hoffen, dass die Parteien den Mut haben werden, die Jungen ranzulassen und womöglich auch erst mal alles auf den Kopf stellen zu lassen.

Haben die Jüngeren auch das Zeug dazu?

HURRELMANN Das ist die Frage. Haben wir Älteren die Jüngeren dazu stark genug gemacht? Oder haben wir sie zu sehr abgeschirmt oder zu sehr verpeppelt? Mir scheint, dass die Allianz zwischen Eltern und Kindern in der Beziehung immer noch unheimlich eng ist.

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