Blinden-Spaziergang Wie Blinde sich in der Stadt orientieren

Saarbrücken · Helga Griffiths und Laurence Jamet zeigen Sehenden, wie sie sich ohne Augenlicht zurechtfinden.

 Die Blumen kann jeder riechen – doch welche sind es?

Die Blumen kann jeder riechen – doch welche sind es?

Foto: Silvia Buss

„Wer braucht noch eine?“, fragt Helga Griffiths und wedelt mit einem Bündel Filzbrillen. Die Darmstädter Künstlerin beschäftigt sich seit Jahren wissenschaftlich und künstlerisch mit den Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Wahrnehmung. Begleitend zur Ausstellung „Crossing“, die ihr die Stadtgalerie gerade widmet, hat sie zum Selbstversuch eingeladen.

Wie fühlt es sich an, blind durch Saarbrücken zu gehen? Das ist die Frage, der acht Frauen und Männer jetzt buchstäblich nachgehen wollen. Jeweils paarweise, einer mit einer Filzbrille, die die Augen abdichtet, der andere, der ihn am Arm führt, folgt die Gruppe Laurence Jamet. Die Französin, mit der Griffiths diesen Blindenspaziergang 2002 in Paris entwickelte, braucht keine Brille. Sie ist von Geburt an blind und will der Gruppe auf die Sprünge helfen, wie man sich mit den übrigen Sinnen orientieren kann.

Doch schon der erste Schritt im Dunkeln kostet einige Überwindung. „Wo sind wir jetzt? Ist da auch kein Laternenpfahl oder Poller?“, fragt ein Mann und will dem Arm, der ihn sanft zieht, nicht einfach folgen. Sich führen zu lassen, sei eine Frage des Vertrauens, bemerkt Griffiths lächelnd. „Hören Sie!“, fordert Jamet, die sich bei Griffiths eingehängt hat, auf. „Was für Geräusche sind zu hören? Aus welcher Richtung?“, will sie wissen. Ein Sehender werfe einfach einen Rundblick auf die Dinge, ein Blinder müsse sich die Wirklichkeit aus vielen einzelnen Eindrücken zusammenbauen, erklärt die Französin auf Englisch.

Nach einigen Metern, die Gruppe erreicht die Skulpturengruppe von Paul Schneider, ergreifen einige Sehende die Hände ihrer zögernden Partner, um sie auf die Steine zu legen. „Fühlen Sie, fühlen Sie richtig, in alle Richtungen“, appelliert Jamet jetzt. Glatt, rau, eckig – jedes Detail ist plötzlich wichtig. Gleich daneben sollen die Sehenden die Pflanztröge abtasten. Mit den Nasen beugen sich alle ganz tief in die Blumenbüschel. Es riecht nach Blumen, aber welche sind es? Da müssen sogar die sehenden Partner passen.

Nach ein paar Metern lässt Jamet wieder anhalten. Sie schnipst mit den Fingern. Was kann man hören? Tatsächlich schließt ein „Blinder“ richtig: Rechts von der Gruppe ist eine Mauer. Weiter geht es. „Das muss ein Café sein, wegen der Menschen, ich höre Geschirr klappern“, sagt einer der Filzbrillenträger glücklich. Seine Sinne sind jetzt richtig angesprungen.

„Wie erkennt man, ob man vor dem richtigen Geschäft steht?“ Jamet spannt die Gruppe nicht zu lang auf die Folter: „Sie öffnen einfach die Tür und riechen hinein“, so ihre Empfehlung. Paarweise machen die Teilnehmer die Probe aufs Exempel. Die Ladenklingel läutet. „Ich rieche Holz“, sagt einer. Wieder rät Jamet: „Gehen Sie näher ran, was riechen Sie noch?“ Hände tasten vorsichtig vor sich. „Ah, Bücher, alte Bücher – ein Antiquariat?“ Während der Antiquar das Treiben in seinem Laden gelassen verfolgt, verrät Jamet noch, Blinde dürften nicht scheu sein: „Wir haben keine Angst vor Berührung.“  Nun geht‘s noch weiter zur letzten Station, zur Basilika St. Johann und dann schnell wieder zurück zum Ausgang. Denn an der Stadtgalerie wartet schon die zweite Gruppe.

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