Sucht Wenn Kinder die Sucht der Eltern decken

St. Wendel · Um den Drogen-Konsum in der Familie zu vertuschen, übernehmen Jungen und Mädchen oft die Verantwortung. Sie schmeißen den Haushalt neben der Schule. Damit sie wieder Kind sein können, hilft die Caritas.

 Um den Kindern das Thema Sucht zu erklären, greifen die Mitarbeiter des Wiesel-Projektes hin und wieder auf Bücher zurück.

Um den Kindern das Thema Sucht zu erklären, greifen die Mitarbeiter des Wiesel-Projektes hin und wieder auf Bücher zurück.

Foto: Corinna Oswald

Lena hat ein Geheimnis. Die Elfjährige schämt sich für ihr Zuhause. Vor allem für ihre Mutter. Denn die gibt das Geld für Schnaps aus, ist oft betrunken und schläft manchmal den ganzen Tag. Lena muss daher einkaufen, kochen und sich um ihren kleinen Bruder Ole kümmern. Sie bringt den Jungen in den Kindergarten, holt ihn mittags wieder ab und gibt ihm Geborgenheit. Das Mädchen erledigt all das, wozu ihre alkoholabhängige Mutter nicht mehr fähig ist. Von ihren Problemen erzählt Lena niemandem. Sogar ihre beste Freundin Mia und ihre Lehrerin dürfen nichts davon wissen. Zu groß ist die Angst, in ein Pflegeheim zu müssen. Die Elfjährige schafft es, den Schein einer heilen Familie aufrecht zu erhalten. Sie kennt viele Tricks und Ausreden. Doch in Wirklichkeit ist sie mit so viel Verantwortung überfordert.

Wie Lena geht es in Deutschland vielen Jungen und Mädchen. 2,65 Millionen Kinder leben mit alkoholkranken Eltern unter einem Dach. Noch einmal 40 000 bis 60 000 haben Eltern, die von illegalen Drogen abhängig sind. „Jedes sechste Kind hierzulande wächst in einer Suchtfamilie auf“, veranschaulicht Psychologin Corinna Oswald. Sie arbeitet bei der Beratungsstelle Die Brigg des Caritasverbandes Schaumberg-Blies. Dieser bietet in den Landkreisen St. Wendel und Neunkirchen auch das Projekt Wiesel an. Suchtfamilien erhalten hier Hilfe. „Wir betreuen die Teilnehmer in Einzelgesprächen und bieten zudem drei Gruppen an“, sagt Oswald. In Sitzungen erklären die Psychologin und eine Sozialpädagogin den Kindern und Jugendlichen alles Mögliche zum Thema. Was ist Sucht? Was suchen Betroffene in der Sucht? Und wie kann man auch ohne Drogen seine Gefühle wahrnehmen? „Es ist ganz wichtig, dass die Kinder verstehen, was mit ihren Eltern los ist“, sagt Oswald. Vor allem aber müssten sie lernen, ihre Gefühle zuzulassen. „So wollen wir verhindern, dass sie später selbst zu Drogen greifen, um ihren Gefühlshaushalt künstlich zu steuern“, erklärt Oswald. Denn nach aktuellen Erkenntnissen wird je ein Drittel der Kinder aus Suchtfamilien selbst einmal abhängig oder leidet unter anderen psychischen Störungen.

Oswald ist bereits seit Start des Wiesel-Projektes im Jahr 2006 mit an Bord. In all der Zeit hat sie viele Fälle erlebt, die dem der elfjährigen Lena ähneln. Obwohl die Geschichte des Mädchen eine fiktive ist – niedergeschrieben vom schwedischen Autor Peter Pohl – greift sie die Problematik realistisch auf. „In den meisten betroffenen Familien ist es so, dass die Kinder keine Kinder mehr sein dürfen“, sagt die Psychologin. Die Eltern seien nur auf die Sucht konzentriert: Beschaffung, Einnahme, Erholung vom Rausch. Das führt dazu, dass der Nachwuchs bestimmte Rollen annimmt. Sogenannte Helden-Kinder verhalten sich wie Lena. Sie kümmern sich um den Haushalt, die Geschwister und ihre Eltern. Außerdem versuchen sie, die Probleme zu vertuschen. Vor Scham oder um ihre Eltern zu schützen. Ganz anders benehmen sich hingegen die Sündenbock-Kinder. Sie schwänzen die Schule, werden aggressiv und konsumieren teilweise selbst Drogen. „Außerdem gibt es noch die Träumer-Kinder. Sie ziehen sich zurück und leben in ihrer eigenen Phantasiewelt“, erläutert Oswald. Doch alle haben etwas gemeinsam: Sie leiden unter den Folgen der Sucht ihrer Eltern. Vernachlässigung, Streit und Gewalt gehören zu ihrem Alltag.

„Wir versuchen, diesen Kindern ein Stück Kindheit zurückzugeben“, sagt Oswald. In den Gruppenstunden werde nicht nur geredet. Die Betreuer spielen, kochen und backen beispielsweise auch mit den Kindern. Manchmal unternehmen sie Ausflüge in die Kletterhalle.

Wer sich einmal dafür entschieden hat, am Wiesel-Projekt teilzunehmen, muss auch regelmäßig zu den Sitzungen erscheinen. Mitmachen dürfen Kinder nur, wenn die Erlaubnis der Eltern vorliegt. Denn die spielen eine wichtige Rolle. „Vater und Mutter müssen es ihrem Kind erlauben, dass es sich uns gegenüber öffnet. Sie müssen mit uns zusammenarbeiten“, erläutert Oswald. Auch ist der Platz in dem Programm begrenzt. „Wir haben so viele Anfragen, dass wir nicht alle aufnehmen können“, sagt Oswald. Vergleichbare Angebote gebe es im Saarland nicht. In der Regel bleiben die Kinder zwei Jahre lang in der Gruppe. Ein Junge – ein absoluter Ausnahmefall, wie Oswald betont – ist allerdings schon seit sieben Jahren dabei.

„Er ist als kleiner Kerl zu uns gekommen“, berichtet die Psychologin. Seine Mutter konsumiere alles querbeet, der Vater sei heroinabhängig und müsse immer wieder ins Gefängnis. Der Junge sei daher bei seinem Opa aufgewachsen. „Ihm war anfangs gar nicht klar, was mit seinem Papa los ist“, erzählt Oswald. Warum raucht er so viel? Warum beklaut er mich? Und warum geht er immer auf dieselbe Toilette, wenn wir in der Stadt sind? All diese Fragen hätten den Jungen beschäftigt. „Wir haben ihm dann kindgerecht erklärt, was mit seinen Eltern los ist“, erinnert sich die Psychologin. „Der Junge ist danach richtig erleichtert gewesen.“ Mittlerweile sei er 15 Jahre alt, lebe in einer Wohngruppe und nehme sein Leben selbst in die Hand. Oswald freut sich über diese positive Entwicklung.

Sie versucht, eine Bindung zu den Kindern aufzubauen. Behält sie genau im Auge. „Wenn wir feststellen, dass sie daheim gefährdet sind, informieren wir das Jugendamt“, sagt Oswald. Einmal habe sie ein Mädchen dorthin begleitet. „Es wollte von sich aus ins Heim“, erzählt die Psychologin. Sie ist für die Kinder eine wichtige Bezugsperson. Ihr können sie all die Probleme anvertrauen. Im Wiesel-Projekt merken die jungen Teilnehmer, dass sie nicht alleine sind.

 Wenn Eltern zur Flasche greifen, kann das für ihre Kinder fatale Folgen haben. Hilfe erhalten sie beim Wiesel-Projekt des Caritasverbandes Schaumberg-Blies. Das Angebot gibt es in den Kreisen Neunkirchen und St. Wendel.

Wenn Eltern zur Flasche greifen, kann das für ihre Kinder fatale Folgen haben. Hilfe erhalten sie beim Wiesel-Projekt des Caritasverbandes Schaumberg-Blies. Das Angebot gibt es in den Kreisen Neunkirchen und St. Wendel.

Foto: dpa/Alexander Heinl

Diese Entdeckung macht letztendlich auch Lena. Als ihr alles zu viel wird und sie einen Schlafplatz sucht, klingelt sie bei ihrer besten Freundin. Dabei findet sie heraus, dass auch Mias Eltern alkoholabhängig sind. Gemeinsam stellen sich die Mädchen ihren Lügen und reden zum ersten Mal offen über ihr wohlgehütetes Geheimnis.

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