Der Überall-Läufer und sein Basislager

Neunkirchen · Florian Neuschwander läuft alle Distanzen. Und er läuft überall auf der Welt. Über das Internet ist der Neunkircher bekannt geworden. Er hat zehntausende Anhänger. Freizeitsportler verehren ihn als Ausnahmeprofi.

 Alleine im Wald, aber viele werden ihm folgen: Ultraläufer Florian Neuschwander im Neunkircher Forst. An Heiligmorgen will er hier ab 11 Uhr mit Freizeitsportlern mehrere Runden drehen. Den Aufruf platzierte Neuschwander in einem sozialen Netzwerk. Foto: Schlichter

Alleine im Wald, aber viele werden ihm folgen: Ultraläufer Florian Neuschwander im Neunkircher Forst. An Heiligmorgen will er hier ab 11 Uhr mit Freizeitsportlern mehrere Runden drehen. Den Aufruf platzierte Neuschwander in einem sozialen Netzwerk. Foto: Schlichter

Foto: Schlichter

Im Moment läuft nur die Waschmaschine. Zum x-ten Mal seit Mittwochabend, als Florian Neuschwander nach Hause kam. Es war ein langes Jahr, viele Reisen, viel Gepäck. Jetzt will er Weihnachten feiern, mit der Familie. "Ich bin sein Basislager", sagt Mutter Monika. Sie sitzt neben Neuschwander am Esstisch in ihrem Häuschen am Biedersberg in Neunkirchen , einer bürgerlichen Gegend, nah am Wald. Hier ist der 35-Jährige aufgewachsen, in einer gemütlichen Doppelhaushälfte. Vor Neuschwander steht ein Laptop, draußen an der Straße, weithin sichtbar, sein schwarzer VW Bulli, Kennzeichen: F-LO. So nennen ihn alle, und dieses Kürzel klingt, als ob ihn alle kennen würden.

Florian Neuschwander ist Ultra-Läufer. Bei der Ultramarathon-WM erreichte er 2015 über 100 Kilometer als Neunter das Ziel, war bester Deutscher. 2013 wurde er in North Wales sogar Vize-Weltmeister im Ultra-Trail: 77 Kilometer, 2800 Höhenmeter. Neuschwander ist der "Überall-Läufer", ein Abenteurer. In diesem Jahr hat er 6000 Kilometer zurückgelegt. Zehntausende Menschen folgen ihm in den sozialen Netzwerken, 39 936 Anhänger sind es bei Facebook . Flo ist für sie: der Ausnahmeprofi.

Das Talent selbst entdeckt

Sein Lauftalent entdeckte Neuschwander selbst. Mit 15 startete er spontan beim Neunkircher Nikolauslauf über 2000 Meter und gewann - ohne Training, in Tennisschuhen, eine Sekunde vor einem Nachwuchsboxer. Damit fing alles an. Helmut Schu war Trainer beim TV Ottweiler, als Neuschwander eines Tages zu ihm kam, um Leichtathlet zu werden: ein Junge, eher klein, schmächtig. Das ist 20 Jahre her. "Gleich beim Warmlaufen habe ich gemerkt, dass was in ihm steckt", erinnert sich Schu. Bald gehörte das Talent zu den Hoffnungsträgern der saarländischen Leichtathletik. Über 10 000 Meter und im Halbmarathon erreichte Neuschwander bei den deutschen Meisterschaften der Junioren Platz zwei.

Helmut Schu hat seine Prinzipien. Ohne Quälerei geht es nicht, davon ist er überzeugt. Als er das Training intensivieren wollte und von Neuschwander verlangte, auch mal 35 Kilometer am Wochenende abzuspulen, stieß er auf Widerstand. Heute ist Schu sicher, dass Flo mehr aus seiner Karriere hätte herausholen können.

Aber was heißt das: mehr? Den Marathon lief Neuschwander 2013 in 2:20:28 Stunden - eine "passable Zeit", findet Schu. "Wenn ich mich voll darauf konzentrieren würde, könnte ich 2:14 Stunden laufen. Doch damit erreichst du keine Olympianorm", sagt Neuschwander. Den Sport so zu betreiben, das interessiert ihn nicht. Er will nicht auf vieles verzichten, ohne den entscheidenden Schritt zu schaffen. Weiter bringt ihn ein anderes Talent. Schu sagt: "Er ist kein stiller Sportler ."

An einem Wintertag vor fast drei Jahren läuft Neuschwander los, um seine Mutter in Neunkirchen zu besuchen. Er wohnt damals in Trier. Auf seinem Blog hatte Neuschwander angekündigt, den langen Weg auf sich zu nehmen, sobald er 100 000 Klicks erhält. Als er vor dem Haus am Biedersberg steht, sind es genau 100 Kilometer. Seitdem ist das seine Distanz. "Er hat sich zum Ultraläufer entwickelt, das hätte ich nicht für möglich gehalten", gibt Schu zu. Die Karriere seines früheren Schützlings verfolgt er noch immer, nicht unkritisch, manchmal ungläubig.

"Für mich ist der Sport keine Qual mehr. Ich laufe, weil ich Bock habe. Und ich laufe, wie ich will", sagt Neuschwander. Auf einen Trainer verzichtet der Läufer, worauf er keine Lust hat, lässt er eher sein, das Krafttraining, die Dehnübungen. "Jeder muss wissen, was für ihn gut ist. Ich laufe seit 20 Jahren und war noch nie richtig verletzt." Es ist diese Haltung, die so viele fasziniert. Und die Nähe, die Neuschwander vermittelt. Ständig erhält er Nachrichten, auf allen Kanälen.

Laufen ist ein heimlicher Volkssport, in Deutschland die Nummer zwei hinter Radfahren, weit vor Fußball. "In der Laufszene gibt es eine Verschiebung zu den Rändern", beobachtet Wirtschaftswissenschaftler Roland Döhrn, der seit Jahren Daten zum Laufen auswertet. Es gibt mehr kurze Läufe einerseits, die "extremen Sachen", wie Neuschwander sie macht, andererseits. Durch das Internet besteht zwischen den Rändern eine Verbindung. Läufer sind vernetzt wie nie. Wenn Neuschwander gerade Bock hat, lädt er auf Facebook spontan zu ein paar Runden ein. An Heiligmorgen, 11 Uhr, läuft er in Neunkirchen auf dem Eberstein, seiner alten Trainingsstrecke. Durch Ultra-Läufe und spontane Aktionen ist Neuschwander bekannt geworden, manche sagen: zu einer Marke.

München, 7. Mai 2016. Für den Benefizlauf "Wings for Life", der über das Internet organisiert wird, bildet Neuschwander ein Team mit hunderten Läufern. 80 Kilometer hat er sich als Zielmarke gesetzt, aufgeben muss er bei 63,5 Kilometern. Doch es wird kein verlorener Tag: Als er vor der Kulisse des Münchner Olympiastadions vor die Leute tritt, die ihm aus dem Netz hierher gefolgt sind, wird es laut. "Ich dachte, da sitzen 100 Leute, aber es waren 500. Und die sind ausgerastet", erinnert sich Neuschwander. Für die Freizeitsportler ist er ein Held ihres Alltags, immer in Sichtweite, auf ihren Smartphones. Manche tragen Perücken, zu große Brillen , überall sind angeklebte Bärte zu sehen. Alle wollen aussehen wie Neuschwander, nur zum Spaß.

Äußerlich hat Neuschwander sich in den letzten Jahren verändert. Er hat sich der Art und Weise angepasst, wie er Leistungssport betreibt: lässig. Schnurrbart, wuscheliges Haar, auffällige Brillen . Sein rechter Arm ist tätowiert: Oben das Gesicht des US-Läufers Steve Prefontaine, unten Roger Bannister. Der Brite lief 1954 die Meile als Erster unter vier Minuten. Neuschwander hat solche Zahlen im Kopf, sein Gedächtnis verrät den Ehrgeiz, mit dem er seinen Sport betreibt.

Berlin, 25. September 2016. 33 128. Das ist seine Startnummer beim Berlin-Marathon . Neuschwander kommt spät ins Ziel, nach 3:48:29 Stunden, an der Seite von Musiker Max Herre . Alle großen Zeitungen haben über Neuschwander geschrieben. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche, auch der Spiegel. Herre, Ende der Neunziger durch die Hip-Hop-Formation "Freundeskreis" zum Star geworden, hatte einen dieser Artikel gelesen und Neuschwander als Trainer engagiert. Als Jugendlicher besaß der Sportler das zweite Album von Herres Band, "Esperanto". So heißt eine Weltsprache, die Menschen über alle Grenzen hinweg verbinden soll. Etwas Ähnliches ist das Laufen für Neuschwander. Als Läufer knüpft er überall schnell Kontakt. Ein Jahr hat er in London gelebt, gründete dort die Laufgruppe "Run with the Flow", weil sein Name auf Englisch klingt wie Flow, Fluss oder Flut. Flow steht beim Berlin-Marathon auch als Name unter seiner Startnummer. Es findet sich kein besseres Wort, um zu beschreiben, wie Neuschwander läuft - getragen von der Öffentlichkeit, mit einem untrüglichen Gespür für das richtige Momentum.

Er hat sich freigelaufen

Florian Neuschwander hat sich freigelaufen, jobbt in Frankfurt in einem Laufshop. Ansonsten lebt er von seinem Sport. Jetzt, mit Mitte dreißig, sieht Helmut Schu ihn im "Leistungszenit". "Das sehe ich nicht so", sagt Neuschwander. "Ultralauf hat für mich erst begonnen." Er sieht sich als "Rookie", als Anfänger. Wenn er all die Läufe aufzählt, die er mitmachen will, springt er in Halbsätzen von Kontinent zu Kontinent. Aber nun ist er erst mal zuhause - in Neunkirchen . An Heiligabend serviert Mutter Monika gegrilltes Gemüse, Spaghetti mit Kürbis, zum Nachtisch Amarettini. Für Sportler in Ordnung, doch Kalorien hat Neuschwander eh nie gezählt. Sein Smartphone leuchtet auf. Jemand fragt aus Brasilien, wann er den nächsten Lauf organisiert.

 „Ich bin sein Basislager“: Monika Neuschwander (rechts) umsorgt ihren Sohn Florian zu Weihnachten. An Heiligabend gibt es gegrilltes Gemüse, Spaghetti mit Kürbis und Amarettini. Foto: Schlichter

„Ich bin sein Basislager“: Monika Neuschwander (rechts) umsorgt ihren Sohn Florian zu Weihnachten. An Heiligabend gibt es gegrilltes Gemüse, Spaghetti mit Kürbis und Amarettini. Foto: Schlichter

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