Unheilbare Nervenkrankheit ALS „Ich habe den unbedingten Willen zu leben“

Püttlingen · Christian Bär schildert den mühsamen Alltag mit der Nervenkrankheit ALS. Seine Situation hält er für ausweglos, dennoch gibt der 40-Jährige nicht auf.

 Christian Bär will die Öffentlichkeit über die unheilbare Nervenkrankheit ALS informieren. Deshalb schreibt der Familienvater aus Köllerbach auch regelmäßig für die SZ.

Christian Bär will die Öffentlichkeit über die unheilbare Nervenkrankheit ALS informieren. Deshalb schreibt der Familienvater aus Köllerbach auch regelmäßig für die SZ.

Foto: Christian Bär

Leider verschlechtert sich mein körperlicher Zustand stetig und in einer beängstigenden Geschwindigkeit. Wenn ich Ihnen bisher über den Status quo berichtete, dann tat ich das knapp, in Stichworten wie Beatmung, Fütterung und Wäsche. Doch was bedeuten diese schnell gelesenen Worte für meinen Alltag? Ich will Sie gerne ein Stück weit in meinen Alltag einladen und zeigen, wie man abseits der Normvorstellung von einem glücklichen Leben glücklich sein kann, aber auch zeigen, welche Mühen mein Alltag mit sich bringt.

Wie sehr die ALS mein Leben und das meiner Umgebung verändert, konnte ich mir bei der Diagnosestellung vor zwei Jahren noch nicht vorstellen, vielleicht war das auch gut so. Der Vollständigkeit halber muss ich aber auch sagen, dass ich mir nicht vorstellen konnte, trotz ALS und schwersten Einschränkungen ein weitestgehend glückliches Leben zu führen. Ich bin nur einer unter vielen. Viele Menschen sind früher oder später auf Hilfe angewiesen, die weit in den persönlichen Bereich geht.

Vor etwas mehr als zwei Jahren war mein Alltag noch völlig  anders als heute. Ich war immer im Treiben, liebte es stressig und war immer festen, flotten Schrittes auf der Arbeit unterwegs. Ich war kommunikations- und diskussionsfreudig. Beruflich bedingt verbrachte ich viel Zeit auf der Autobahn. Etwa die Hälfte der Woche war ich am Firmenstandort Ludwigshafen, was täglich ungefähr drei Stunden Fahrtzeit bedeutete, die Standzeit im Stau kam noch oben drauf. Die morgendlichen Fahrten waren mit Diensttelefonaten gefüllt, wohingegen die späten Heimfahrten meist mir gehörten. Es waren tolle Fahrten. Ich freute mich über den produktiven Tag, rollte mit Tempomat entspannt nach Hause und hörte laut Musik, zu der ich gefühlt besser (und vor allem lauter) sang als das Original. „Georgia on my mind“ und „Raider in the rain“, gesungen von Thomas Quasthoff und Christian Bär.

Mein heutiger Alltag differiert fast vollständig zu früher. Früher benötigte ich etwa 40 Minuten, um mich nach dem Aufstehen komplett einsatzfähig zu machen. Inklusive Duschen, Rasieren, Krawatte, Anzug, E-Mails prüfen und einem Kaffee, und da brach keine Hektik aus. Heute sieht das etwas anders aus.

Nach dem Aufwachen habe ich für gewöhnlich Krämpfe und Spastiken. Deshalb benötige ich umgehend Medikamente, Muskelrelaxanzien, um diese Lage kontrollierbar zu machen. Die Einnahme der Tabletten im Bett ist schwierig, denn das Schlucken fällt schwer, so kurz nach dem Wachwerden. Damit ich kommunizieren kann, hängt ein Sprachcomputer über meinem Bett, es braucht aber, bis die Augen fit genug sind, um ihn zu bedienen. Bis dahin verständige ich mich nur durch Blicke und Lidschlag. Langsam zu und auf heißt „Ja“, keine Reaktion oder lange geschlossen „Nein“. Intelligente Fragen werden vorausgesetzt, ich bitte um Verstand.

Nachdem die Tabletten Wirkung zeigen, kann es beschwingt losgehen. Ich werde in den Rollstuhl transferiert, dann in den Treppenlift umgesetzt, ins Erdgeschoss gefahren, in den elektrischen Rollstuhl umgesetzt und ab ins Bad. Meine Mitarbeit erfordert von mir hohe Konzentration. Wobei meine Mitarbeit der eines mit Kartoffeln gefüllten Jutesacks ähnelt. Ich versuche, beim Transfer aus Höflichkeit der Pflegekraft nicht auf die Schulter zu sabbern, immerhin.  Es folgt der Badbesuch.

Der gesamte Ablauf im Bad ist ziemlich genau orchestriert. Routinierte Abläufe schaffen Sicherheit, denn bei diesen Prozeduren bin ich ohne Möglichkeit, mich zu äußern, und kann maximal Ja-Nein-Fragen mit den Augen beantworten. Vom Prinzip läuft das so mit dem Pflegepersonal: „Hallo, mein Name ist Müller“ (Meier, Schmitt, Knochenhauer, Meuchl, Möhrenschläger und so weiter), Klamotten runter und ab unter die Dusche. Es ist ein massiver Eingriff in meine Privat- und Intimsphäre.

Nach dem Bad gibt’s Klamotten, Tabletten und Frühstück. Natürlich muss alles angereicht und gefüttert werden. Bis ich einsatzfähig bin, muss im Schnitt mit zwei Stunden geplant werden. Bis ich abends im Bett liege und an der Beatmungsmaske hänge, vergeht auch geraume Zeit.

Der Tag ist stets geplant, ich benötige ständige Hilfe beziehungsweise Beobachtung. Ich bin allein gänzlich handlungsunfähig, lediglich der Sprachcomputer lässt mich produktiv sein. Es kommt allerdings des Öfteren vor, dass das System hängen bleibt und nicht mehr auf meine Augen reagiert. Es bedarf dann eines manuellen Eingriffs. Ein sehr hilfloses Gefühl, bis Hilfe kommt. Ebenso ist es im Bett. Ich muss gedreht werden, die Decke muss gerichtet werden und vor allem die Beatmung erfordert eine ständige Anwesenheit einer weiteren Person im Haus, die an meinem Wohlergehen aktives Interesse hat und im Notfall weiß, was zu tun ist. Einbrecher und Handwerker sind für diese Aufgaben also nicht geeignet.  Aktiv meint, dass ich beobachtet werden muss. Denn wenn ich in der Maske erbrechen sollte oder mich verschlucke, bleibt nicht viel Zeit, um die Maske zu entfernen, ansonsten ersticke ich. Der Vollständigkeit halber: Verschlucken und daran ersticken geht auch ohne Maske.

Fassen wir zusammen: Privatsphäre ist vorbei beziehungsweise muss neu definiert werden. Kommunikation findet statt, allerdings in neuer Form und für mich und meine Familie in einem stark reduzierten Maße. War ich doch spontan, laut, witzig, diskussionsfreudig. Meine Antworten dauern nun lange und fordern dem Gesprächspartner einiges an Geduld und Zurückhaltung ab. Spontan ist nicht mehr möglich, Witze sind nicht mehr witzig und die Tonlage der Computerstimme transportiert keine Emotionen. Wenn ich meiner Frau etwas Liebevolles sagen will, klingt es, als wollte ich ein Pfund Gehacktes bestellen. Der Verlust meiner Stimme ist der schwerste Verlust meiner körperlichen Fähigkeiten. Mit der Stimme entfällt auch das Singen, mit der Mundmuskulatur das Pfeifen. Meine Duette mit Thomas Quasthoff sind somit gehalten. Ein herber Verlust für mich (und, wie ich finde, für die gesamte Menschheit oder zumindest einige Stauteilnehmer auf der A6).

Wir befinden uns mitten im Rückzugsgefecht und ich verabschiede mich täglich von Dingen, die ich nicht mehr kann. Es ist ein ständiger Abschied und demnächst stehen die lebenswichtigen Funktionen an: Essen, Trinken, Atmen. Und natürlich habe ich Angst davor, an diesen Punkt zu kommen. Nach aktueller Lage wird es unvermeidlich sein. Die Forschung macht Fortschritte, aber ein Durchbruch, gerade bei der sporadischen Form der ALS, ist in den nächsten Jahren nicht zu erwarten. Für mich wohl zu spät. Für unseren dreijährigen Sohn Hannes und meine Familie wohl zu spät. Für weltweit derzeit geschätzt 400 000 Erkrankte zu spät.

Und wie erwähnt, bin ich nicht frei von Angst. Ich befinde mich in einer ausweglosen Situation und die Aussichten sind fatal. Das sagen die Erfahrung und der Verstand. Aber eben nicht hoffnungslos. Und sei die Chance noch so klein, sie ist da und es lohnt zu kämpfen. Kampf bedeutet, der Angst mit Mut Einhalt zu gebieten. Mut zu leben, Mut zu lachen, Mut Grenzen zu überwinden, Mut Belastungen zu ertragen, Mut zu lieben. Es stellt sich nicht die Frage, ob ich das will, sondern nur, wie ich damit umgehe. Es gibt hier keine Optionen für mich, denn ich habe den unbedingten Willen zu leben. Ich versuche, möglichst wenig Energie damit zu verbrauchen, meine missliche Lage zu betrauern, und meine Energie für mein Leben einzusetzen, für meine Familie.

Christian Bär steuert den Computer, mit dem er seine Texte schreibt, ausschließlich mit den Augen. Über seine Erfahrungen mit ALS bloggt er auch regelmäßig unter www.madebyeyes.de.

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