Wissenschaftler wollen ein Frühwarnsystem entwickeln Wenn Smartphones Depressionen erkennen

New York/Leipzig · Mit der Auswertung von Handy-Daten durch spezielle Apps sollen Rückschlüsse auf die psychische Gesundheit der Nutzer möglich sein.

  Selbst im Grundschulalter leiden bereits bis zu zwei Prozent der Kinder an Depressionen. Bei Jugendlichen ist dann schon jeder Zehnte betroffen.

Selbst im Grundschulalter leiden bereits bis zu zwei Prozent der Kinder an Depressionen. Bei Jugendlichen ist dann schon jeder Zehnte betroffen.

Foto: dpa/Patrick Pleul

Die Zunahme von Depressionen und der Anstieg der Selbstmordrate unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat Forscher auf eine provokante Frage gebracht: Kann dasselbe Gerät, das einige Menschen für Ängste und Beklemmungen in unserer Zeit verantwortlich machen, auch dazu beitragen, diese zu erkennen? Dieser Gedanke hat ein regelrechtes Rennen um die Entwicklung von Smart­phone-Apps ausgelöst, die vor psychischen Krisen warnen sollen.

Untersuchungen haben die exzessive Nutzung von Smartphones in Zusammenhang mit einer Verschlechterung der mentalen Gesundheit von Jugendlichen gebracht. Mit der Art, wie sich junge Menschen durch soziale Netzwerke wie Instagram und Snapchat bewegen, wie sie Texte tippen oder Youtube-Videos ansehen, hinterlassen sie jedoch auch digitale Spuren, die Hinweise auf ihr psychisches Wohlbefinden zulassen.

Veränderungen bei Tipp-Geschwindigkeit, Tonfall, Wortwahl oder wie oft Kinder und Jugendliche zu Hause bleiben, können Untersuchungen zufolge auf Probleme hinweisen. Es gebe bis zu 1000 potenzielle Smartphone-Hinweise auf Depressionen, sagt Thomas Insel, ehemaliger Leiter des US-amerikanischen National Institute of Mental Health und heute einer der führenden Vertreter der Smartphone-­Psychiatrie-Bewegung. Die amerikanischen Forscher testen Apps mit künstlicher Intelligenz, um depressive Episoden oder eventuelle Selbstschädigung vorherzusagen.

Auch in Deutschland arbeiten Wissenschaftler daran, mit moderner Technik Depressionen frühzeitig zu erkennen und bei der Prävention zu helfen. Das Pilotprojekt ­Steady der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Universität Leipzig lässt Patienten per Smartphone und Smartwatch Daten über ihr Verhalten und ihren körperlichen Zustand sammeln. Eine Depression sei eine schwerwiegende Erkrankung, es gebe zahlreiche Veränderungen in den Körperfunktionen und im Verhalten, die darauf hinweisen könnten, sagt Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Depressionshilfe und Leiter der Psychiatrie am Uniklinikum Leipzig.

Steady hat den Aufbau einer digitalen Plattform zum Ziel, die es Patienten mit Hilfe des Smartphones und mobiler (Bio-)Sensoren erlauben soll, Daten über den eigenen Krankheitsverlauf zu erheben. Das Projekt soll laut Hegerl darüber Aufschluss geben, ob Patienten durch diese selbst gesammelten Daten mit ihrer Erkrankung besser umgehen und ob die medizinische Versorgung dadurch effizienter gestaltet werden kann. Das System erfasse dazu Daten wie Herzfrequenz, Hautleitfähigkeit, Umwelteinflüsse, Standorte, Stimm- und Schlafmuster, körperliche Aktivitäten oder die Art der Smartphone-Nutzung. Diese Informationen werden Hegerl zufolge mit Einschätzungen der Patienten zu ihrer Stimmung und dem derzeitigen Befinden ergänzt. „Ziel ist es, den Patienten über diese Daten genauer als über reine Selbstwahrnehmung auf Veränderungen seiner Symptomatik, etwa auf eine beginnende depressive Episode, hinzuweisen“, erklärt der Psychiater.

Die Forscher testeten das System derzeit unter ärztlicher Beobachtung mit 21 Teilnehmern im Alter von 20 bis 60 Jahren, deren Daten über einen Zeitraum von anderthalb Jahren erhoben würden, erklärt Heike Friedewald von der Deutschen Depressionshilfe. „Bisher sind die Rück­meldungen sehr positiv, die Teilnehmer berichten, dass ihnen allein schon die Erfassung der Daten dabei hilft, ihren Alltag besser zu strukturieren“, sagt sie.

Die Verantwortlichen legen laut Ulrich Hegerl großen Wert auf Datenschutz. „Grundgedanke ist, dass die Patienten Produzenten und Eigner der Daten sind, die verschlüsselt auf einem Server in Deutschland abgelegt werden“, erklärt der Psychiater. Patienten sollten selbst entscheiden, an wen sie die Daten weitergeben wollten. „Eine Umfrage im Rahmen von Steady hat ergeben, dass die Bereitschaft der Patienten recht groß ist, die Daten mit ihren Ärzten und Psychotherapeuten zu besprechen“, sagt Hegerl. Kaum einer der Befragten wolle allerdings Freunde, Angehörige oder die eigene Krankenkasse an den Daten teilhaben lassen, so der Facharzt.

Depressionen gehören laut der Deutschen Depressionshilfe hierzulande zu den häufigsten psychischen Erkrankungen, unter denen Kinder und Jugendliche leiden. Das Erkrankungsrisiko steige bei Jugendlichen gegenüber Kindern an: Bei Kindern im Vorschulalter liegt die Häufigkeit der Stiftung zufolge bei rund einem Prozent, im Grundschulalter seien weniger als zwei Prozent der Kinder betroffen. „Aktuell leiden drei bis zehn Prozent aller Jugendlichen zwischen zwölf und 17 Jahren unter einer Depression. Das macht durchschnittlich zwei Schüler pro Klasse“, sagt Ulrich Hegerl. Werde eine Depression frühzeitig erkannt, seien die Behandlungserfolge in der Regel groß.

Menschen mit psychischen Krankheiten würden allerdings normalerweise erst behandelt, wenn sie eine Krise hätten und der Krankheitsverlauf sehr weit fortgeschritten sei, sagt US-Forscher Thomas Insel. „Wir wollen eine Methode haben, um die ersten Zeichen zu identifizieren.“ Smartphone-Apps könnten sofort Hilfe bieten, etwa mit automatisierten Textbotschaften, Links und Telefonnummern von Hilfsangeboten oder Alarmmeldungen an Eltern, Ärzte und Ersthelfer, so Insels Einschätzung.

Auch das soziale Netzwerk Facebook hat kürzlich eine sogenannte proaktive Erkennung eingeführt. Auslöser war ein live auf der Plattform übertragener Selbstmord. Inzwischen sind die Systeme von Facebook laut dem Konzern so eingerichtet, dass sie bestimmte Wörter oder Sätze erkennen, die auf eine bevorstehende Selbstschädigung hindeuten. Auch die Kommentare von besorgten Freunden würden einbezogen.

„Für die Diagnose einer Depression reicht es nicht aus, einfach nur die Smartphone-Nutzung eines Patienten zu analysieren oder dessen Facebook-Aktivitäten zu verfolgen“, sagt Ulrich Hegerl dazu. Für eine zuverlässige Diagnose sei eine persönliche Untersuchung nötig. „Eine Depression verändert alles“, so Hegerl. Dazu gehöre zwar häufig auch das Verhalten am Smartphone und in den sozialen Medien, „manche Hinweise ergeben sich aber nur im persönlichen Gespräch und durch gezieltes Nachfragen“.

(dpa)
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