Online-Beachtung um jeden Preis Die gefährliche Jagd nach Klicks

Soest/Los Angeles · Viele Jugendliche veröffentlichen Bilder und Videos von sich selbst auf Internet-Plattformen, um so möglichst viel Aufmerksamkeit von anderen zu bekommen. In der Suche nach Anerkennung sehen Experten jedoch einige Risiken.

 Die Zwillinge Lisa und Lena wurden durch Online-Plattformen wie Musical.ly und Instagram bekannt. Dort veröffentlichen sie Fotos und Videos von sich selbst, die millionenfach angeklickt und eifrig kommentiert werden.

Die Zwillinge Lisa und Lena wurden durch Online-Plattformen wie Musical.ly und Instagram bekannt. Dort veröffentlichen sie Fotos und Videos von sich selbst, die millionenfach angeklickt und eifrig kommentiert werden.

Foto: Christian Charisius/dpa/Christian Charisius

Ein Mädchen fährt sich mit ihren Fingern durch die blonden langen Haare und singt zu einem Liebeslied. Das Gesicht, die dunkel geschminkten Augen und die Gesten sind dramatisch, passend zu der kleinen Krone auf seinem Kopf. Der Teenager veröffentlicht das 15-sekündige Video in der Karaoke-App Musical.ly und erhält dafür mehr als 1,3 Millionen „Herzen“, ähnlich einem „Gefällt mir“ auf Facebook. Dazu kommen tausende Kommentare, vor allem von jungen Männern: „Du bist sooooo hübsch“ oder „Hast du einen Freund?“ Solche Worte schmeicheln, jedes Kompliment baut das Ego auf. Macht das vielleicht sogar süchtig?

Neben Alkohol und Drogen berge auch das Internet, insbesondere der Wunsch nach Beachtung im Netz, ein hohes Suchtpotenzial, sagt Dr. Ralph Schliewenz vom Berufsverband Deutscher Psychologen. Das virtuelle Zeichen dieser Anerkennung – bei Facebook der Daumen hoch, bei Musical.ly die Herzen – sei für viele eine Art Rauschmittel: Je mehr Likes, desto besser fühlen sich die Teenies. Und sie sind enttäuscht, wenn ihr Video keinen interessiert.

Dabei sei die Suche nach Anerkennung, egal ob in der Realität oder virtuell, ein normales pubertäres Verhalten, erklärt Schliewenz: „Die Heranwachsenden entwickeln ihre eigene Identität und fragen sich: Wer bin ich? Wer will ich sein? Wie sieht mich die Gesellschaft? Das war schon immer so, nur die Möglichkeiten, Feedback zu erhalten, haben sich verändert.“ Damals bekamen Jugendliche den realen  hochgereckten Daumen auf dem Schulhof, nun ist es der virtuelle Daumen eines vielleicht völlig Fremden.

Die Anonymität im Internet bietet eine „vermeintlich sichere Bühne“, sagt Schliewenz. „Im Internet muss der Teenager nicht er selbst sein. Er kann eine Rolle spielen und sich dabei neu erfinden.“ Problematisch werde es, wenn die Jugendlichen die Realität gänzlich aus den Augen verlören. „Online-Feedback verführt. Man kann es schnell und überall bekommen. Und dort, wo ich es bekomme, gehe ich natürlich wieder hin“, erklärt Schliewenz. 

Auf der Jagd nach virtueller Anerkennung sei die Selbstdarstellung der Teenager schon lange kein harmloses Hobby mehr, sondern zu einem Konkurrenzkampf geworden. In verschiedenen Foren gibt es Tipps, wie man online „mehr Fans, Likes und Followers abstauben“ kann. Denn zu welcher Tageszeit ein Video veröffentlicht wird, ist genauso wichtig wie die passende Kleidung, das Make-up und der richtige Hashtag. Der Traum, der dahinter steckt: Internet-Star werden.

„Bereits viele zehn- bis zwölfjährige Schüler geben als Berufswunsch Youtube-Star an“, sagt Schliewenz. Für ihn kein Wunder, denn Berühmtheiten wie Justin Bieber oder die 15-jährigen Influencer Lisa und Lena haben es vorgemacht. Webseiten und Apps wie Youtube und Musical.ly suggerierten den Teenagern, dass es ganz einfach sei, ein Star zu werden, so der Experte. Sie seien sozusagen nur einen Klick von der großen Bühne entfernt: Raus aus dem langweiligen Teenager-Leben, rein in ein virtuelles Land unbegrenzter Möglichkeiten. Dabei werde nur selten thematisiert, wie lange sich solche Online-Stars in der Öffentlichkeit halten könnten. Auf- und Abstieg würden oft direkt aufeinander folgen.

Wie gefährlich die Selbstdarstellung im Netz sein könne, darüber müsse man am besten schon im Kindergarten aufklären, rät Schliewenz: „Kinder müssen verstehen, dass sie mit jedem Online-Beitrag die Kontrolle über ihre Bilder und Videos komplett abgeben.“ Erst kürzlich hatte die Musical.ly-App mit Pädophilie-Vorwürfen zu kämpfen. Verbraucherschützer des Infoportals mobilsicher.de entdeckten in der Anwendung Tausende Videos von Mädchen, die in Unterwäsche tanzen, oder Jugendliche in Bikinis, die von Erwachsenen über die Kommentarfunktion zu noch freizügigeren Bildern ermutigt werden. Als Konsequenz auf diese Vorwürfe hat das Unternehmen Hashtags wie „bellydance“ (Englisch für Bauchtanz) oder „bikini“ aus der Suche gelöscht, nicht jedoch die Videos. 

Schliewenz hat für Eltern, die sich um ihre Kinder sorgen, aber auch gute Nachrichten: Ein solches Verhalten halte nicht ewig an und gehe nur in wenigen Fällen ins Erwachsenenalter über. Früher seien  stundenlanges Telefonieren und Seifenopern im Fernsehen die „Krankheiten“ der Pubertät gewesen, heute seien es eben die sozialen Medien. „Das vergeht“, sagt Schliewenz.

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