Das kleine Haus der großen Kunst

St-Paul de Vence · Fast alle großen Maler des 20. Jahrhunderts besuchten das Restaurant La Colombe D'Or im Stadtkern von St.-Paul de Vence.

 Ein Keramikbild des Künstlers Fernand Léger ziert die Terrasse des Restaurants La Colombe d'Or. Foto: Marie Roux

Ein Keramikbild des Künstlers Fernand Léger ziert die Terrasse des Restaurants La Colombe d'Or. Foto: Marie Roux

Foto: Marie Roux

Nachmittags sind die Tischplatten nackt. Aus schlichtem Holz, abgewetzt manche, nicht mehr unter edlem weißen Leinen verborgen. Irgendjemand hat ihnen in Windeseile das Leinen abgezogen, kaum dass die letzten Gäste gegangen waren, sich losgerissen hatten vom Blick über die Teller mit gegrillten Pfefferschoten mit Olivenöl, über Seebrassen mit provençalischen Tomaten hinweg und an Koniferen vorbei ins Tal mit den Olivenbäumen. Bis zum Abend-Ansturm. Bis wieder alles herausgeputzt und festlich neu eingedeckt sein wird auf der Terrasse der Goldenen Taube - von "La Colombe d'Or", wenige Schritte vom mittelalterlichen Stadtkern von St. Paul de Vence entfernt.

Es sind die Stunden, in denen das Restaurant Atem zu holen scheint. Die Stunden, in denen Patron François Roux einen Moment Zeit hat, sich selbst mal zu setzen und ein paar Sätze zu plaudern. Dort, wo einst Stammgast Marc Chagall saß, der fünf Autominuten von hier gewohnt und gearbeitet hat: Er saß auf einem hellen Kissen auf der Steinbank direkt am Haus. Dort, wo erst Signac und Soutine, später Henri Matisse und Picasso, auch Braque und Fernand Léger einkehrten. Es war ihr Lokal - eines, das Künstler seit der Eröffnung 1931 anzog. Nach und nach bekamen auch all die anderen Prominenten Wind, die solche Orte lieben: die französischen wie die Dichter Jacques Prévert, Sartre und Simone de Beauvoir, Schauspieler wie Yves Montand und Brigitte Bardot, die internationalen Kino-Größen wie Orson Welles und David Niven, Roger Moore und Tony Curtis.

Bestimmt war es wegen des Essens, der herzhaften provençalischen Küche ohne Schnickschnack, der Gespräche, wegen der Atmosphäre, die François Roux' Großvater Paul und seine Oma Benedictine hier schufen und die später seine Eltern Francis und Yvonne weiter befeuerten. Und sowieso war es wegen dieser Luft, diesem Geruch nach Blüten und Wacholder. Und weil St. Paul de Vence schon immer ein Bilderbuchort war.

Monsieur Roux, Betreiber in nunmehr dritter Generation, zuckt mit den breiten Schultern, sagt dann schlicht: "Wie schön, dass es so gekommen ist." Jetzt leuchten seine hellblauen Augen, und ein bisschen scheint der ergraute Schnurrbart zu wippen. Die Künstler jedenfalls haben ihre Spuren hinterlassen. In seiner Erinnerung und darüber hinaus - denn als Kind hat der heutige Patron des Hauses, Jahrgang 1953, sie alle erlebt. Er weiß, wie Picassos Stimme klang, er kennt den Händedruck von Marc Chagall, das Lächeln von Miró. Sie alle ließen Bilder in seinem Kopf zurück - und sie hinterließen Werke, die heute im Restaurant an den Wänden hängen: millionenschwere Schätze von Museumsrang, nicht bloß flüchtige Skizzen auf übrig gebliebenen Papier-Servietten. Keine hingeworfenen Autogramme mit zwei, drei originellen Strichen, sondern stattliche Ölgemälde.

Die Privatsammlung der Familie ist allgegenwärtig. Im Restaurant. Im Hotel. Im Speiseraum. In den Fluren. Drinnen und draußen. Sogar am Pool. Was die Gaststätte von manchem Saal im Museum of Modern Art oder dem Guggenheim unterscheidet? Eigentlich nur, dass dort niemand traditionell provençalisch kocht, keiner Tische aufgestellt hat. Die Kunstwerke dort bekommen Besuch. Das ist hier anders. Hier wird zwischen ihnen gelebt: als wären sie nicht da. Oder als gehörten sie dazu. Einen Aufseher? Gibt es nicht. Die Fenster? Stehen jetzt am späten Nachmittag sperrangelweit offen - auch die zur Straße. Schließlich muss gelüftet werden.

Und was ist dran an all den Geschichten, dass die Künstler-Größen der 1950er und 1960er Jahre gerne mit Bildern bezahlten? "Eine Legende mit 20 Prozent Wahrheitsgehalt," sagt Roux. "Sie wussten alle, was ihre Arbeiten wert sind und was ein Essen kostete." Und was niemals als Gegenwert gemeint war, das sind die Signaturen im Gästebuch - und ihr drumherum. Es enthält Skizzen von Miró, von Picasso, von Francis Picabia - als Dankeschön, als Ausdruck ehrlicher Freunde.

Der Lieblingsplatz von Chagall, der fast Nachbar war und jahrzehntelang mehrmals im Monat zum Essen herkam? "Meist war er mittags da. Und am liebsten saß er im Freien." Er deutet mit der Rechten auf eine Bank und einen Tisch gleich neben der Eingangstür. Ein Platz auf dem Präsentierteller für den eher scheuen Chagall? "Kein Problem, die meisten kannten seine Kunst, aber nicht sein Gesicht. Er konnte bei uns ungestört essen."

All die Gäste von einst haben würdige Nachfolger gefunden - namhafte Künstler wie Julian Schnabel und Christo zum Beispiel. Und all die Stars, die sich zum Festival in Cannes tummeln. Und besonders schön ist es, dass auch Menschen, die nicht berühmt sind, nicht erkannt, nicht gekannt werden, gerne herkommen. Wegen der Atmosphäre, wegen der Bilder. Und wegen der Luft, des Lichts, des Ausblicks.

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Künstler-Charme an der Côte d'Azur Saint-Paul-de-Vence liegt etwa 15 Kilometer vom Flughafen in Nizza, der unter anderem von Luxemburg aus angeflogen wird, entfernt. La Colombe d'Or befindet sich am 1 Place du Général de Gaulle und beherbergt neben dem Restaurant auch ein Hotel. www.la-colombe-dor.com

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