Medizin Acht Medikamente an jedem Tag

Saarbrücken · Viele Senioren in Deutschland schlucken zu viele Pillen. Das kann gefährliche Nebenwirkungen haben.

 Die Deutschen schlucken immer mehr Medikamente. Ab dem Alter von 80 Jahren nimmt der durchschnittliche Patient acht Medikamente pro Tag ein. Dabei sind die frei verkäuflichen Arzneimittel noch nicht mitgerechnet.

Die Deutschen schlucken immer mehr Medikamente. Ab dem Alter von 80 Jahren nimmt der durchschnittliche Patient acht Medikamente pro Tag ein. Dabei sind die frei verkäuflichen Arzneimittel noch nicht mitgerechnet.

Foto: dpa/Matthias Hiekel

Je älter ein Mensch wird, desto häufiger leidet er unter mehreren Krankheiten gleichzeitig. Mediziner sprechen von einem multimorbiden Patienten. Verschiedene Leiden benötigen unterschiedliche Therapien. Schnell kommen dann viele Medikamente zusammen, die nach einem festen Plan eingenommen werden müssen. Diese Multimedikation oder Polypharmazie bringt Probleme mit sich. Es kann zu Neben- und Wechselwirkungen kommen, die nicht sicher zuzuordnen sind. Manchmal werden Nebenwirkungen eines Präparats sogar als Symptome einer anderen Krankheit durch weitere Medikamente behandelt. Probleme können aber auch entstehen, wenn zum Beispiel ein Arzt aus Sorge vor Wechselwirkungen ein Medikament nicht verschreibt.

Genaue Zahlen dazu gibt es nicht, sie werden nicht erhoben. „Über die Gründe kann ich nur mutmaßen. Aber wir Fachmediziner schätzen, dass es um die 20 000 sogenannte Arzneimitteltote im Jahr in Deutschland gibt“, sagt der Internist Martin Wehling. Zum Vergleich: Die Zahl der Verkehrstoten liegt bei 3200. Zudem dürfte eine unpassende Medikamentenzusammenstellung zumindest Mitursache für jede vierte bis fünfte Klinikeinweisung sein. Wehling ist Direktor an der Medizinischen Fakultät der Uni Heidelberg in Mannheim. Er leitet die Arbeitsgruppe Arzneimitteltherapie der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG).

In Deutschland nehmen über 65-Jährige im Schnitt fünf Medikamente am Tag. Ab dem 80. Lebensjahr sind es statistisch sogar acht. Das seien allerdings nur die verschriebenen Mittel. Unbekannt sei meist, wie viele rezeptfreie Präparate ein Patient zusätzlich schlucke. „Das kann richtig gefährlich werden“, warnt Wehling. Viele Menschen griffen bei Schmerzen, Schlafstörungen oder zur Beruhigung zu frei verkäuflichen Präparaten. Deren oft achtlos beiseite gelegten Warnhinweise und Dosierungsangaben seien wichtig, denn „diese Mittel können bei jedem Menschen großen gesundheitlichen Schaden anrichten, wenn sie in höheren Dosen oder über längere Zeit eingenommen werden. Sie schädigen Organe wie Nieren und Leber und können auch Blutungen oder Herzschwäche fördern, bis hin zum Infarkt“, sagt Ursula Müller-Werdan, Direktorin der Klinik für Geriatrie und Altersmedizin am Berliner Universitätskrankenhaus Charité. Sie ist Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG). Wenn jemand mehrere Medikamente einnehme und ohne Rücksprache mit seinem Arzt zum Beispiel noch dauerhaft Ibuprofen, Diclofenac oder blutverdünnend wirkende Mittel kombiniere, seien schwere Komplikationen möglich.

Manche Arzneimittel können Verwirrtheit und Schwindel auslösen. Folgen können teils schwere Stürze und längere Klinikaufenthalte sein. Müller-Werdan rät deshalb vor jeder Veränderung eines Medikamentenplans zur Rücksprache mit einem Arzt. Bei Unsicherheiten könne der Patient unter Umständen auch eine zweite medizinische Meinung zu den verordneten Mitteln einholen.

Einige Medikamente, vor allem Beruhigungsmittel, mindern die geistige Leistung. Es gibt sogar eine Form der Demenz, die durch Medikamente ausgelöst werden kann. Etwa ein Drittel aller Demenzpatienten, so nehmen Mediziner an, leidet unter dieser Form des geistigen Verfalls. Sie verschwindet meist, wenn die Mittel abgesetzt werden.

Wechselwirkungen unterschiedlicher Medikamente sind ohnehin ein fast unüberschaubares Feld. „Kein Arzt kann das alles im Kopf haben“, sagt Müller-Werdan. Dafür gebe es technische Hilfen für Mediziner und verschiedene Leitlinien für die Verordnung. Solche Leitlinien können allerdings auch Probleme verursachen. Sie empfehlen meist drei bis vier Präparate pro Symptom, und die Testpersonen, mit denen eine Medikamentendosis ermittelt wird, sind in den allermeisten Fällen jüngere Erwachsene. Die Werte sind entsprechend unpassend für ältere Menschen. „Zusätzlich lassen die Organfunktionen und die Durchblutung der Gewebe im Alter nach. Beispielsweise haben die zwei Nieren eines gesunden 80-Jährigen zusammen nur noch das Leistungsvolumen einer einzelnen Niere junger Menschen. Entsprechend langsamer werden Wirkstoffe vom Körper ausgeschieden. Das muss bei der Dosierung berücksichtigt werden“, veranschaulicht Martin Wehling das Problem. Daher empfiehlt er dringend, bei der Medikamentenauswahl eine der Listen heranzuziehen, die auch das Alter einberechnen, wie etwa Forta („Fit for the Aged“). Sie soll Medizinern helfen, Komplikationen durch falsch angewendete Arzneimittel zu vermeiden und zeigt nachweislich nützliche sowie untaugliche Medikamente für ältere Patienten. Die gibt es sogar als App.

„Durch solch schnell einsetzbare digitale Hilfen lässt sich die Wahrscheinlichkeit einer medikamentösen Über- oder Unterversorgung deutlich verringern. Denn ein Hausarzt hat im Durchschnitt nur acht Minuten Zeit für einen Patienten, in denen er eine möglichst optimale Behandlung gewährleisten soll“, sagt der klinische Pharmakologe Wehling, der das einzige Zentrum für Gerontopharmakologie in Deutschland leitet. Wer einen Arzt das erste Mal aufsuche, sollte seinen aktuellen Medikamentenplan oder zumindest eine Tüte mit allen Arzneien, die er einnimmt, mitnehmen. Für einen Arzt bedeute ein solches Auftaktgespräch großen Aufwand. „Um einen multimorbiden Patienten gut medikamentös einzustellen, sind ein Analysegespräch und Berechnungen von ein bis zwei Stunden nötig, für die unser System aber fast nichts vergütet“, kritisiert Facharzt Wehling. „In unserem Gesundheitssystem werden technische Therapien teils sehr hoch vergütet, das Menschliche aber oft vernachlässigt.“ Auch Ursula Müller-Werdan betont die Wichtigkeit der Arzt-Patienten-Gespräche: „Es muss immer darum gehen, die subjektive Lebensqualität und die geistige Leistungsfähigkeit jedes einzelnen Patienten so weit wie möglich zu erhalten, idealerweise zu steigern. Weniger Medikamente sind oft besser, aber keinesfalls immer.“

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