Übergewicht Warum so viele Menschen dick werden

London · Das Erbgut spielt eine Rolle, ob jemand schnell übergewichtig wird oder nicht. Noch größeren Einfluss haben die Bakterien im Darm.

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Foto: SZ

Tim Spector erforscht seit vielen Jahren, wie sich unsere Gene auf Körpergewicht und Gesundheit auswirken. Dazu hat der Professor der Universität London zahlreiche wichtige Studien mit über 11 000 Zwillingen durchgeführt. Den Wissenschaftler treibt die Frage um, wieso der eine Mensch, der regelmäßig eine bestimmte Speise zu sich nimmt, an Gewicht zulegt, während der andere, der genau die gleiche Nahrung verzehrt, sogar Pfunde verliert.

Spector ist zu der Erkenntnis gelangt, dass Übergewicht und Fettleibigkeit nicht nur damit zusammenhängen, wie viele Kalorien wir aufnehmen und dann wieder verbrauchen. Es ist keineswegs garantiert, dass übergewichtige Patienten spürbar Gewicht verlieren, wenn sie den Ratschlägen ihrer Ärzte folgen, weniger zu essen, bestimmte Lebensmittel ganz wegzulassen und regelmäßig körperlich aktiv zu sein.

Selbsternannte Experten: Tim Spector weist darauf hin, dass die meisten Diäten auf einer verengten Betrachtungsweise basierten. „Heute kann man den Eindruck gewinnen, jedermann sei ein Experte für Nahrungsmittel und Ernährung. Doch die meisten Diäten werden von Leuten ohne wissenschaftliche Ausbildung ausgetüftelt oder propagiert“, sagt Spector. „Und leider kann jeder von sich behaupten er sei Ernährungsspezialist oder Ernährungsberater.“ Inzwischen sei jedoch klar geworden, dass Menschen unterschiedlich auf die gleichen Nahrungsmittel reagieren. Aus demselben Lebensmittel ziehen einige mehr Kalorien als andere. Handfeste Beweise dafür gibt es schon seit 30 Jahren. Professor Dr. Claude Bouchard von der Laval-Universität in kanadischen Quebec hatte dazu eine aufsehenerregende Studie durchgeführt.

Gemästet im Schlafsaal: 24 freiwillige Studenten, alle gesund und mit Normalgewicht, alle aus Familien, in denen bisher keine Fälle von Fettleibigkeit und Diabetes aufgetreten waren, wurden drei Monate lang in einem Schlafsaal der Universität einquartiert. Sie lebten abgeschlossen von der Außenwelt. Die Tage verbrachten sie mit Schlafen, Essen, Videospielen, Lesen oder Fernsehen. Sie durften die ganze Zeit über nicht rauchen und keinen Alkohol trinken. Auch Sport war verboten. Die Studenten durften täglich lediglich 30 Minuten lang spazieren gehen.

Die Teilnehmer erhielten Mahlzeiten in genau abgepackten Mengen. In den ersten 14 Tagen lag die Kalorienzahl bei 2600 Kilokalorien täglich. Nach dieser Einführungsphase wurde die Kalorienmenge für die weiteren 100 Tage um 1000 auf 3600 Kilokalorien pro Tag erhöht. Die Studenten wurden regelrecht überfüttert. Die Nahrung bestand zu 50 Prozent aus Kohlenhydraten, zu 35 Prozent aus Fett und zu 15 Prozent aus Protein.

Das Endergebnis überraschte Forscher und Fachwelt. Die Gewichtszunahme der gemästeten Studenten war höchst unterschiedlich ausgefallen: Sie lag zwischen fünf und 13 Kilogramm. Und manche der Teilnehmer wandelten die überschüssigen Kalorien nicht nur in Fettpolster, sondern auch in Muskelmasse um.

Der Einfluss der Gene: Die Studie erwies sich als besonders wertvoll, weil daran zwölf eineiige Zwillingspaare teilgenommen hatten. Zwar nahmen die Zwillingspaare in unterschiedlichem Ausmaß zu, doch die Zwillinge eines Paares lagen stets dicht zusammen. Und bei einigen Zwillingspaaren lagerte sich das Fett um den Bauch herum an, bei anderen jedoch im Bauchraum (Eingeweidefett), wo es zu Entzündungen des Organismus führen kann.

„Doch bis heute weiß niemand, was im Körper Signale an unsere Fettzellen sendet, damit sie sich rund um Bauch und Gesäß ablagern und nicht etwa als Fettpölsterchen an den Ellbogen“, erläutert Tim Spector.

Die Zwillingsstudie hat gezeigt, dass manche Unterschiede bei der Verwertung der Nahrung auf unsere Gene zurückzuführen sind. Das haben weitere Zwillingsstudien von Tim Spector und anderen Forschern aus aller Welt inzwischen bestätigt. Unsere Gene beeinflussen unseren Appetit und somit auch unser Gewicht. „Eineiige Zwillinge ähneln sich beim Körpergewicht und den Fettpolstern stets stärker als zweieiige Zwillinge“, berichtet Spector. Da eineiige Zwillinge genetisch identisch sind, kann man sehr gut herausfinden, welchen Einfluss das Erbgut auf das Körpergewicht und die Körperform hat. „Genetische Faktoren erklären etwa 60 bis 70 Prozent der Unterschiede zwischen Menschen“, sagt Tim Spector. Im Durchschnitt weisen eineiige Zwillinge weniger als ein Kilogramm Gewichtsunterschied auf.

Rätselhafte Unterschiede: Doch auch die Ähnlichkeiten beim Anteil der Körpermuskulatur und der Fettverteilung im Körper, den Essgewohnheiten und Vorlieben oder Abneigungen gegen bestimmte Nahrungsmittel werden durch Gene beeinflusst. Dass ein Merkmal stark vom Erbgut beeinflusst wird, heißt jedoch nicht, dass es vorbestimmt ist. Denn es gibt auch eineiige Zwillinge, die trotz ihrer identischen Gene sehr unterschiedliche Bauchumfänge aufweisen. Solche Paare wecken das Interesse der Wissenschaft in besonderem Maße. Denn wie kommen die unterschiedlichen Bauchumfänge zustande? Die Antwort auf diese Frage könnte auch eine Erklärung dafür liefern, warum die Zahl der stark übergewichtigen Menschen in den letzten Jahren weltweit enorm gestiegen ist.

„Die genetischen Faktoren allein können die erheblichen Veränderungen, die in den letzten beiden Generationen in der Bevölkerung zu beobachten waren, nicht erklären“, sagt Tim Spector. Das Erbgut könne sich nicht so schnell verändern und brauche im Schnitt mindestens 100 Generationen, sich an neue Ernährungsgewohnheiten und Umweltbedingungen anzupassen.

Zwar wurden in jüngster Zeit einige weitere Gene entdeckt, die mit Fettleibigkeit und der Hunger-Regulation im Gehirn zu tun haben, doch spielen sie dabei jeweils nur eine kleine Rolle.

Die Macht der Darmbakterien: Inzwischen häufen sich die Beweise, dass winzige Mikroorganismen im Darm einen weitreichenden Einfluss auf unsere Gesundheit und unser Körpergewicht haben. Der menschliche Körper enthält 100 Billionen von Mikroorganismen. Man spricht auch von Mikroben. Dazu zählen Bakterien, Viren und Pilze. Allein die Mikroben in unseren Eingeweiden wiegen über zwei Kilogramm. Die meisten von ihnen leben im Grimmdarm (Colon), dem rund 130 Zentimeter langen Darmabschnitt vor dem Enddarm (Rektum). Im Grimmdarm wird der größte Teil des Wassers zurückgewonnen, im darüberliegenden Teil des Darms, dem Dünndarm, wird der größte Teil unserer Nahrung ins Kreislaufsystem absorbiert. „Der Dünndarm enthält ebenfalls Mikroben in kleinerer Anzahl, doch über sie und ihre genau Rolle wissen wir viel zu wenig“, erklärt Spector.

Darmbakterien machen fett: Im Darm bilden viele unterschiedliche Arten von Mikroben eine Gemeinschaft, die als Mikrobiom bezeichnet wird. Tim Spector fasst den aktuellen Stand der Forschung zusammen: „Veränderungen bei unseren winzigen Darmmikroben dürften für einen erheblichen Teil unserer epidemischen Fettleibigkeit verantwortlich sein. Das gilt auch für deren tödlichen Folgen wie Diabetes, Krebs und Herzerkrankungen.“

Doch nicht jeder Mensch verfügt über die gleichen Darmmikroben. Die Unterschiede können sogar enorm sein. Tim Spector, der auch das britische Darmforschungsprojekt leitet, startete 2012 die damals weltweit größte Studie zu Darmmikroben. 5000 Zwillinge nahmen daran teil. Mithilfe der neuesten Gen-Technologie versuchten Spector und sein Team, die unterschiedlichen Mikroben im Darm der Studienteilnehmer zu identifizieren und ihren Einfluss auf die Nahrungsverwertung und die Gesundheit zu erforschen. In Zusammenarbeit mit der Cornell University in New York wurden bei den Zwillingen die 1000 wichtigsten Mikrobengruppen im Darm untersucht.

Den Wissenschaftlern fiel auf, dass es zwischen beliebigen zwei Personen keine großen Übereinstimmungen gab. Die Vielfalt war erstaunlich. Sogar die eineiigen Zwillinge hatten nur knapp über 50 Prozent der wichtigsten Mikrobenmuster gemeinsam. Bei der Gesamtbevölkerung sind es zwischen zwei beliebigen Personen etwa 40 Prozent.

Als die Forscher nach Gemeinsamkeiten bei den verschiedenen Mikrobenarten suchten, konnten sie nachweisen, dass es zum großen Teil von unserer Ernährung abhängt – und zu einem geringeren Teil von unseren Genen –, welche Mikroben sich im Darm ansiedeln. In den Hauptgruppen, zum Beispiel den Bacteroidetes, gibt es Untergruppen von Bakterien, etwa Lactobacillus und Bifidus, die die Tendenz zu Fettleibigkeit und Kranksein verstärken. Passend dazu haben Forscher der Universität Pittsburgh, USA, herausgefunden, dass unsere westliche Ernährung mit viel Fleisch, Fett und Zucker zu einer ungünstigen Zusammensetzung der Darmbakterien führt. Welche Bakterien sich im Darm ansiedeln, hängt also auch von der Ernährung ab. Ein ungünstiges Mikrobiom befördert Übergewicht und Stoffwechsel-Erkrankungen, das Risiko für Darmkrebs steigt.

Dass Menschen meist unterschiedliche Mikroben im Darm beherbergen und daher unterschiedlich auf die gleichen Nahrungsmittel reagieren, liefert eine Erklärung dafür, warum die Ergebnisse der Ernährungsforschung oft so widersprüchlich sind.

Mangelhaftes Wissen: „Die Unterschiede zwischen unseren Darmmikroben können erklären, warum eine Ernährungsweise mit wenig Fett bei manchen Leuten funktioniert, für andere jedoch gefährlich ist, warum manche Menschen problemlos sehr viele Kohlenhydrate essen können und andere aus der gleichen Menge mehr Kalorien gewinnen und zunehmen, warum einige fröhlich rotes Fleisch verzehren und andere davon Herzkrankheiten bekommen, und sogar, woran es liegt, dass alte Menschen, die in ein Heim umziehen und eine andere Ernährung bekommen, oft rasch an Krankheiten sterben“, erläutert Tim Spector.

Unser noch mangelhaftes Wissen über unsere Mikroorganismen ist also ein Hauptgrund dafür, warum viele Diäten und Ernährungsempfehlungen erfolglos bleiben. Immerhin weiß man, was „gute“ Mikroben in den Darm lockt: eine ballaststoffreiche Ernährung mit Vollkornprodukten, Gemüse, Salaten, Hülsenfrüchten, Nüssen und Obst, das jedoch viel Zucker enthält.

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